AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

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ein dokumentationsprojekt

50 jahre hochschullehre und forschung
antonio alexandre bispo

volksliedforschung
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rethinking


rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien

1970-1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo

fachbereiche
ästhetik, wahrnehmung, strukturaktionstheorie, fundamente der expression und kommunikation des menschen

Walter Wiora
1906-1997

Walter Wiora gehört zu den Musikwissenschaftlern, die im Rahmen der Besprechung von Autoren und Publikationen in den einführenden Sitzungen des Faches Musikethnologie der Musikfakultät des Musikinstituts São Paulo besonders berücksichtigt wurden. Entsprechend den theoretischen Leitprinzipien des Fachbereiches richtete sich das Interesse primär auf seine Ansätze und Deutungen, auf seine Denk- und Sichtweisen, die wiederum die Berücksichtigung des Kontextes, in dem Wiora lebte, und der Prozesse, in die er sich einfügte, erforderten.  


Walter Wiora war in Brasilien seit langem sowohl in Kreisen der Volkskundler als auch in der Musikgeschichte bekannt. Er war seit 1964 Professor für Musikwissenschaft an der Universität des Saarlandes, und zu ihm gab es Kontakte, die in den folgenden Jahren weiterbestehen sollten. Sein Fachgrenzen übergreifendes Verständnis der Musikforschung, das historische, volkskundliche/ethnologische und systematische Vorgehensweisen miteinander in Verbindung setzte, entsprach in vieler Hinsicht theoretischen Bestrebungen, die Mitte der 1960er Jahren in São Paulo einsetzten. Seine 1972 erschienene Historische und systematische Musikwissenschaft (Tutzing: Schneider) wurde dementsprechend mit großem Interesse aufgenommen.


Bei Volkskundlern, die sich der Musik widmeten, genoss Wiora den Ruf, ein international anerkannter Expert für die Erforschung des Volksliedes zu sein, wenn auch seine Publikationen durch die Sprachbarriere schwer erreichbar waren. Er war vor und nach dem Krieg mit der Deutschen Volksliedforschung eng verbunden. Er war seit den 1930er Jahren Mitarbeiter des Deutschen Volksliedarchivs in Freiburg, als dessen Leiter der Musikabteilung er von 1946 bis 1958 wirkte.

In deutschsprachigen Kreisen wurden in den 1930er und 1940er Jahren einige seiner Studien bekannt, wie Die Variantenbildung im Volkslied: Ein Beitrag zur systematischen Musikwissenschaft (Berlin: Gruyter 1941). Das 1950 erschienene Werk Das echte Volkslied (Heidelberg: Müller-Thiergarten 1950) wurde als Bestätigung für diejenigen Volkskundler angesehen, die zwischen Echtem und Unechtem in der Folklore unterschieden, eine Bemühung, die ausgesprochen oder unterschwellig die Jahrzehnte überdauerte.


Es ist nicht nur aus sprachlichen Gründen nachvollziehbar, dass die Studien von Wiora vor allem in deutschen Kreisen in Brasilien der 1930er und 1940er Jahren und auch nach dem Krieg besonders rezipiert wurden. Die Pflege des deutschen Volksliedes in den deutschen Vereinen São Paulos – wie überhaupt in den deutschen Migrantenkolonien Brasiliens – war ein wichtiges, wenn nicht zentrales Anliegen als ein wichtiger Faktor für das Zusammengehörigkeitsgefühl und für die Bewahrung der deutschen Sprache und Bindungen zur alten Heimat gewesen. Sie hing eng mit politischen Entwicklungen im Deutschland der 1930er Jahre zusammen, sodass sie auch Ziel von Nationalisierungsmaßnahmen auf brasilianischer Seite wurde, die auf portugiesische Übersetzungen der Lieder drängte. Diese Bedeutung der Volksliedpflege entsprach Entwicklungen der Volksliedsammlung, -archivierung und -studien in Deutschland, die ideologisch geprägt und mit rassenkundlichen Vorstellungen durchzogen waren. Wiora veröffentlichte Beiträge in nationalsozialistischen Organen, die auch in Brasilien rezipiert wurden – wie „Die Molltonart im Volkslied der Deutschen in Polen und im polnischen Volkslied“ (Die Musik, 1940) –, habilitierte 1941 und war Dozent an der Reichsuniversität Posen ab 1942.


Bemerkenswert ist allerdings, dass theoretische Ansätze der Volksliedforschung – wenn auch entideologisiert – auch nach dem Krieg fortgeführt wurden.

Das Ansehen von Wiora in deutschen Kreisen São Paulos erklärte sich auch dadurch, dass sein Lehrer Willibald Gurlitt (1891-1963) als Forscher von Bach und der alten Musik in der Bach-Gesellschaft São Paulos hoch anerkannt war.


Sein Buch Die vier Weltalter der Musik wurde von Musikhistorikern und in fortgeschrittenen Kursen für Musikgeschichte beachtet. In ihm – wie auch in anderen Studien, die die besondere Stellung der abendländische Musik hervorheben (Die geschichtliche Sonderstellung der abendländischen Musik, Schott's Söhne, Mainz 1959) – vertritt er ein Geschichtsbild, das auch die Diskussion um die vergleichenden Musikstudien betrifft.


Bei der Betrachtung des ersten Zeitalters geht er von Erwägungen über Ur- und Frühzeit einer Jägerkultur der Steinzeit mit ihren Ritualen sowie des Sesshaftwerdens des Menschen aus und kommt auf das Weiterleben von wesenhaften Elementen einer urtümlichen Musik bei den indigenen Völker zu sprechen, was naturgemäß für die Musikethnologie Brasiliens besonders aufmerksam diskutiert werden muss. Die Differenzierung zwischen einer wirklich urtümlich primitiven Musik und einer „reprimitivierten“ Musik geben Anlass zu weiteren Diskussionen. In einem zweiten Zeitalter wird die Musik in den Hochkulturen des Altertums betrachtet. Er geht auf die Musik bei den Sumerern, in Babylonien und Mesopotamien nach Hinweisen in jüdischen Texten ein. Mit dem Judentum und Christentum sei dann eine Vergeistigung des Musiklebens eingetreten. Bei der Betrachtung des dritten Zeitalters geht es um Orient und Okzident und um die abendländische Musikkultur, um die theoretische Auseinandersetzung mit der Musik, um Ordnungen und Gesetzmäßigkeiten. Schließlich geht es um Betrachtungen eines Weltalters der Technik und globalen Industriekultur, um die Erschließung neuer Sphären, aber auch um eine Enthumanisierung und Ideologisierung in der Neuen Musik.


Die Debatten, die bei der Besprechung der Ansichten von Wiora im Rahmen der Musikethnologie der Musikfakultät São Paulos sowie der Brasilianischen Gesellschaft für Volkskunde zu Beginn der 1970er Jahren geführt wurden, setzten sich in Deutschland bei Gesprächen mit ihm zu verschiedenen Anlässen fort. Sie wurden vielfach in Zusammenhang mit Studien des Volksliedes am Institut für hymnologische und musikethnologische Studien weiter geführt.

Text basierend auf Niederschriften der Vorlesungsreihe „Musik in der Begegnung der Kulturen“ von Prof. Dr. A. A. Bispo, Universität Köln 1997-2000, sowie u.a. des Seminars zu „Musik in Spielen des Jahreskreises“ 2001.