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ein dokumentationsprojekt

ISMPS

AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

50 jahre hochschullehre und forschung
antonio alexandre bispo

US - folklore
& cultural studies


rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien

1970-1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo

fachbereiche
ästhetik, wahrnehmung, strukturaktionstheorie, fundamente der expression und kommunikation des menschen

Alan Lomax

1915-2002

Alan Lomax war der am meisten geachtete amerikanische Musikforscher um 1970 in Kreisen des Museums für Volkskünste und -techniken São Paulos bzw. des Museums für Folklore (Museu de Artes e Técnicas Populares), das die führende Institution Brasiliens hinsichtlich der theoretischen Erneuerung der Folklore-Forschung war.


Alan Lomax wurde stets in Lehrveranstaltungen und Besprechungen von Rossini Tavares de Lima (1915-1987) als ein Forscher der USA hervorgehoben, der am meisten seinen Auffassungen entsprach, die die Arbeit des Museums und der fortschrittlich denkenden Folklore-Forscher São Paulos theoretisch und praktisch prägten. Diese besondere Hochachtung brachte er sonst nur den italienischen Musikforschern Roberto Leidy (1928-2003) und Diego Carpitela (1924-1990) entgegen, die in enger Beziehung zu Lomax standen. Er berücksichtigte die Auffassungen dieser Folkloristen und Musikwissenschaftler in seinen Publikationen und bei seinen Vorträgen als offizieller Inspektor des 1968 gegründeten Zentrums für Forschungen in Musikologie der Nova Difusão.


Der herausragende Ruf von Lomax in São Paulo gründete primär auf einer bereits jahrelangen Entwicklung der Beziehungen zwischen Brasilien und Institutionen der Folklore-Forschung der Vereinigten Staaten. Die Arbeit seines Vaters John Avery Lomax (1867-1948) als Folklorist und Musikforscher sowie seine Wirkung beim Archive of American Folk Song, das an der Library of Congress 1928 eingerichtet wurde, wurden als beispielshaft anerkannt. Mehrere der früheren Studien von Alan Lomax waren in der Bibliothek des Tonarchivs São Paulo (Discoteca Pública Municipal) vorhanden. Sein Einsatz zur Erforschung, Aufwertung und Verbreitung der Folk-Musik und der mündlichen Überlieferung sowie seine wertschätzenden Interviews mit den Menschen „von der Straße“ – „man on the street“ – wurden als vorbildlich und wegweisend angesehen. Sie kamen dem Interesse an der Alltagskulturforschung entgegen, die in São Paulo praktiziert wurde und zunehmend in den Vordergrund der Arbeit der Folklore-Forscher trat.


Das Ansehen von Lomax unter den Folklore-Forschern um Tavares de Lima in São Paulo gründete nicht zuletzt in der Nähe der politischen Einstellungen. Lomax, der wegen der politischen Verhältnisse in den USA der 1950er Jahre nach Großbritannien ziehen musste, ähnelte in seiner Lebensgeschichte der Wirklichkeit der Intellektuellen und Künstler Brasiliens, die unter der beengten Atmosphäre des Militärregimes in den 1960er Jahren litten. Demensprechend wurde er im Kreis der Folklore-Forschung, die sich für eine Erneuerung von Denk- und Sichtweisen einsetzte, bereits 1966 besonders beachtet. Bei Lomax – wie bei den von Tavares de Lima hoch geachteten italienischen Musikethnologen – sollten Forschung und Erziehung zusammen mit Aktivismus erfolgen.


performance style & soziale strukturen
cantometrics - choreometrics - parlametrics

Im Jahr der Eintragung der Erneuerungsbewegung als Gesellschaft Nova Difusão (1968) erschien sein in vieler Hinsicht wegweisendes Buch Folk-song style and culture. Diese Publikation stellte ein maßgebliches Verbindungsglied zwischen den Tendenzen zur Erneuerung der Folklore-Forschung und der Institutionalisierung der Ethnomusikologie auf Hochschulebene zu Beginn der 1970er Jahren in São Paulo dar.


Diese Beachtung von Lomax in fortschritlichen Kreisen der Folklore-Forschung  konnte nicht ohne Auswirkung auf die neu eingeführte Ethnomusikologie an der Fakultät des Musikinstituts São Paulo bleiben. Seine Ansätze und Verfahrensweisen wurden in Lehrveranstaltungen zu Theorie und Methode der Forschung ab 1972 eingehend besprochen. Im Mittelpunkt der theoretischen Besprechungen stand die von ihm entwickelte Projekt Cantometrics, das er zusammen mit dem Musikforscher Victor Grauer durchführte.


Dieses Projekt entsprach in vieler Hinsicht dem Bestreben nach Wissenschaftlichkeit in der Kultur- und Musikkulturforschung, das dem Anliegen der Brasilianischen Gesellschaft für Fortschritt der Wissenschaft und der neu gegründeten Brasilianische Gesellschaft für die Geschichte der Wissenschaft entgegen kam.


Die Entwicklungen in den USA und in Brasilien verliefen unter vielen Aspekten parallel. Bestrebungen, die sich in der Mitte der 1960er Jahren herauskristalisierten, traten 1968 in die Öffentlichkeit. Das 1968 veröffentlichte Folk song style and culture wurde von Lomax 1966 bei der Jahresversammlung der American Association for the Advancement of Science vorgestellt. Die Parallelen der gleichzeitigen Entwicklungen betrafen auch das Interesse für die urbane Folklore-Forschung bzw. für die Folk-songs. In São Paulo kam dieses Interesse in der Studie „Folk-Urbanismo“ zum Ausdruck, die von A.A.Bispo an der Fakultät für Architektur und als Mitarbeiter des Folklore-Museums von São Paulo 1969 durchführt wurde.


1970 kündigte Rossini Tavares de Lima beim Round-Table am O Estado de São Paulo an, für die Diskussion der neuen theoretischen Ansätze der Folklore-Forschung in Brasilien zur Teilnahme an einer internationalen Konferenz in den USA eingeladen worden zu sein. Er gedachte, die Nähe seines Ansatzes zu denjenigen von Folkloristen wie Lomax vorzustellen und zugleich auf die Unterschiede der Ansätze hinzuweisen.


Die cantometrische Analysen von Lomax wurden an Tausenden von Songs aus Hunderten Kulturen, mit ca. zehn Songs pro Gruppe, durchgeführt. In seinem Buch Folk song style and culture sind 2527 Songs mit 43 choreometrischen Profilen sowie 17 Texten aufgeführt.


Die Publikation von Lomax wurde nicht nur studiert, sondern auch bei den Lehrveranstaltungen in São Paulo kritisch diskutiert.


Hauptkritik an der Unternehmung von Lomax galt der Auffassung von Arealen und einer Musikkartographie, was seit langem ein Anliegen von Musikforschern wie Fritz Bose (1865-1945) war. Hinsichtlich Musikinstrumenten war die Unterscheidung von Arealen beim Lomax-Lehrer Curt Sachs (1891-1959) (1929) oder bei K.G. Izikowitz (1935), hinsichtlich Musikstilen bemühten sich in diesem Sinn u,.a. P. Collaer (1891-1989) (1960) und A.M.Jones (1889-1980) (1959) . Rossini Tavares de Lima richtete sich hierbei nach Rorberto Leydi (1928-2003), dessen Kartographie im Handbuch der Ethnomusikologie an der Fakultät des Musikinstituts São Paulos wiedergegeben wurden.


Lomax ordnete 233 Gesellschaften in 56 Kulturareale und sprach von song-style regions. Eng mit diesem Anliegen zusammenhängend war das Bestreben, cross-cultural-Vergleiche anzustellen. Er verwendete dafür Aufnahmen aus den Folkway Records (Moses Asch) und der International Library of African Music (Hugh Tracey). Die Einteilung der Welt in große historisch-geographische Räume bzw. die Gruppierung der Daten in großen Komplexen führte zur Unterscheidung von 56 Arealen, die in sechs Regionen unterteilt wurden: Südamerika, Nordamerika, Pazifische Inselwelt, Afrika, Europa und ein euroasiatischer Raum, der als der der alten Hochkulturen betrachtet wurde. Dazu kamen isolierte Räumen wie Australien, die asiatische Arktis und das tribale Indien.


Das Problem der Einteilung der Welt in Areale unter dem Aspekt der Musik spielte bei den Vorbereitungen zur Einführung der Ethnomusikologie an der Fakultät eine grundsätzliche Rolle. Neben allgemeinen Einführungen in der Ethnomusikologie wurden nämlich Module beim Aufbau des Lehrplanes eingeplant, die verschiedene regionale Komplexe vorsahen, damit sich die Studierenden mit den verschiedenen musikkulturellen Komplexen der Kontinente und Kontexte befassen konnten. Für eine solche Einteilung gab es eine eingehende Diskussion der Kriterien.


In dem Fachbereich Urbane Geographie der Philosophischen Fakultät der Universität São Paulo wurde 1969 aus der Perspektive der Kulturgeographie das Anliegen diskutiert, eine Musikkulturgeographie zu entwickeln sowie das Vorkommen von Musikinstrumenten, -praktiken und -techniken zu kartographieren. Ein entsprechendes Anliegen wurde in der Architekturfakultät für urbanologische Studien von São Paulo besprochen, auf Grund empirischer Forschung realisiert und 1972 als Graduierungsarbeit vorgelegt. Hier wurde die Aufmerksamkeit nicht auf einer Erarbeitung von Arealen, sondern auf die Prozesse zwischen den Räumen gerichtet, wie es dem Ansatz der Nova Difusão entsprach.


Die herausragende Bedeutung von Lomax lag darin, dass er der Blick auf die Performance bei der Erforschung von Beziehungen zwischen Musik und Struktur der Gesellschaft sowie ihre internen Interaktionen schärfte. Diese Auseinandersetzung entsprach der Aktualität der Diskussion über den Strukturalismus, die durch die Arbeiten von Claude Levi-Strauss (1908-2009) in São Paulo besonders intensiv geführt wurde. Die Errichtung des Faches Estruturação (Strukturationstheorie) im Fachbereich Ästhetik des Musikinstituts spiegelt die damalige Bedeutung des Denkens nach Struktur und Funktion wider. Diese Tendenz sollte die Orientierung des Kulturdiffusionismus und der Kulturkreislehre älterer europäischer Musikforschung ersetzen. Lomax ließ in seiner Auffassung ein Weiterleben alter evolutionistischer und diffusionistischer Auffassungen erkennen, weswegen seine Ansichten auch kritisiert wurde. Es wurde aber auch anhand seiner Vorgehensweisen erwogen, ob eine Verbindung verschiedener Ansätze und Tendenzen des Denkens in kohärenter Weise möglich wäre.


Das Anliegen, durch die Aufmerksamkeit der Forschung auf Performance ein Klassifikationssystem von Songs zu entwickeln, das weltweit anwendbar wäre und es erlauben würde, einen gehörten Song in verschiedenen Versionen schnell einzuordnen, war für die Ethnomusikologie an einer Fakultät, die vor allem die Aus- und Fortbildung von Musikerziehern als Ziel hatte, von pragmatischer Bedeutung.


Dieses Ansinnen entsprach dem Bestreben, die angehenden Musikerzieher in verhältnismäßig kurzer Zeit so zu trainieren, dass sie in der Lage versetzt würden, die bei ihrer Schultätigkeit gehörten Lieder zu erkennen und in Kulturkontexte einzuordnen. Lomax sprach diesbezüglich in seinem Buch von Character-States, die organisiert werden können nach Kriterien wie solche der vokalen Performance, der Struktur und der Instrumentierung. Seine Klassifizierung von melodischen Konturen nach Kriterien wie bogenförmig, terrassenförmig, wellenartig oder absteigend, die mit sozialen Strukturcharakteren in Beziehung gesetzt wurden, wurden im Fach Estruturação in Zusammenarbeit mit der Ethnomusikologie besprochen.

Text basierend auf Niederschriften des von A.A.Bispo geleiteten Oberseminars

„Aktuelle Probleme anthropologischer Musikwissenschaft“ an der Universität Bonn 2003 und des Hauptseminars zur kulturwissenschaftlich orientierten Musikforschung an der Universität Köln 2005.