AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

50 jahre hochschullehre und forschung
antonio alexandre bispo

US - ethnomusicology


rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien

1970-1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo

fachbereiche
ästhetik, wahrnehmung, strukturaktionstheorie, fundamente der expression und kommunikation des menschen

Bruno Nettl

1930 - 2020

Alan Merriam
1923-1980

Die Betrachtung der für das Studium der Musikethnologie relevanten Bibliographie in der Musikfakultät des IMSP folgt dem Ansatz, dass die Denk- und Sichtweisen der Autoren selbst im Vordergrund der Aufmerksamkeit stehen sollten. Dieser Ansatz geht zurück auf die Bestrebungen zur Erneuerung der Kultur- und Musikstudien, die Mitte der 1960er Jahren in São Paulo einsetzten und 1968 zur Gründung des Centro de Pesquisas em Musicologia führt.


Die Betrachtung der Publikationen und Ansätze von Bruno Nettl setzt eine aufmerksame Berücksichtigung seiner Eltern, des Musikwissenschaftlers Paul Nettl (1889-1972) und der Pianistin Gertrude Hutter (1905-1952), voraus und somit der sozialen, politischen, wissenschaftlichen und kulturellen Situation in der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn vor und nach dem ersten Weltkrieg.


Paul Nettl gehört zu den wichtigen Gestalten einer mit der jüdischen Verfolgung in den 1930er Jahren und der Emigration geprägten europäisch-nordamerikanischen Geschichte der Musikforschung.


Paul Nettl, der 1939 über die Niederlande in die USA auswanderte, war durch seine Publikationen bereits in den 1940er Jahren in Südamerika bekannt. Er erhielt seine Schulbildung in der deutschen Schule in Prag und studierte Rechtswissenschaft zwischen 1909 und 1915 an der Universität Prag, wo er 1913 promovierte. Er studierte Komposition bei Gerhard von Keußler (1874-1949) und Musikwissenschaft bei Heinrich Rietsch (1860-1927) und Guido Adler (1855-1941) in Wien. Er promovierte 1915 mit einer Arbeit zum Thema „Studien zur Spielarie nebst einem Beitrag zur Geschichte der österreichischen Suitenkomposition im 17. Jahrhundert“. Nach dem Krieg, in dem er mitkämpfte, habilitierte er mit einer Arbeit zur Wiener Tanzmusik in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Paul Nettl wurde Privatdozent an der Universität Prag und 1927 Leiter des Instituts für Musikwissenschaft. Seine Eltern, die in der Tschechoslowakei geblieben waren, wurden in Theresienstadt ermordert. Er war zunächst Professor am Westminster Choir College in Princeton und von 1946 bis 1959 an der Indiana University Bloomington tätig; er wirkte auch an der Roosevelt University in Chicago und am Cincinnati Conservatory. Paul Nettl blieb mit den österreichischen Musikforschern in Verbindung und gehörte dem Zentralinstitut für Mozartforschung in Salzburg an.


Durch Herkunft, Ausbildung, den Kontext seines Wirkens in der alten Doppelmonarchie sowie durch seine spätere Bindung zum Mozarteum stand er in Beziehung zu Musikern und Musikforschern Brasiliens, die aus Österreich stammten, allen voran Martin Braunwieser (1901-1991), eine führende Gestalt der brasilianischen Vergleichenden Musikforschung.


Bruno Nettl studierte Musikwissenschaft und Anthropologie an der Indiana University u.a. bei George Herzog (1901-1983), dem Musikhistoriker Willi Apel (1893-1988), dem Sprachforscher Charles F. Voegelin(1906-1986)  und dem Volkskundler Stith Thompson (1885-1976). Er promovierte mit einer Arbeit mit dem Titel „American indian Music North of Mexico, Its Styles and Areas“. Sein Master of Arts in Liberal Studies erlangte er in Bibliothekswissenschaft an der University of Michigan. Er wirkte als Bibliothekar und Lehrer an der Wayne State University in Detroit. 1956 kam er als Stipendiat nach Deutschland, wo er Studien am Institut für Musikwissenschaft in Kiel durchführte. 1964 wurde er Associate Professor an der Univerity of Illinois, 1967 Professor für Musikwissenschaft und wirkte seit 1958 auch in der dortigen Abteilung für Anthropologie.


Als Forscher machte Nettl Untersuchungen bei den Blackfoot in Montana sowie Studien in Indien, Israel und Iran. Seine Name ist  verbunden mit der Etablierung der Musikethnologie, die sich gleichsam als angesagter Fachbereich in den 1960er Jahren in Lateinamerika durchsetzte. Als Herausgeber der Zeitschrift Ethnomusicology (1960-1965) sowie als Gründungsmitglied und Präsident der Society for Ethnomusicology (1969-1971) genoss er auch in Lateinamerika den Ruf einer der wichtigsten Persönlichkeiten der Musikethnologie.

Das Buch Theory and Method in Ethnomusicology (New York: The Free Press of Glencoe/A Division of Macmillan Publishing Co.,Inc., 1964) wurde als das Handbuch der Studierenden des Faches Ethnomusikologie in der Fakultät des Musikinstituts São Paulos eingesetzt. Es wurde nicht als Lehrbuch verwendet, sondern als Grundlage für die Diskussion über die ihm zugrundeliegenden Auffassungen.


Entgegen der Annordung der Kapitel wurde das Buch mit einer Besprechung der Bibliographie und Quellen der Musikethnologie eingeleitet, was mehrere Sitzungen in Anspruch nahm. Erst dann wurden die Kapitel zu „What is Ethnomusicology?“, „Field Work“, „Transcription, „Description of Musical Compositions“, „The Nature and Description of Style: Some Theories and Methods“, „Instruments“, „Music in Culture -  Historical and Geographical Approaches“ und „Music in Culture – Context and Communication“ besprochen. Die Kapitel des Buches wurden in einzelnen Sitzungen diskutiert. Die Stunden wurden zweigeteilt. Der erste Teil wurde theoretischen Aspekten gewidmet, der zweite Teil praktischen Anleitungen zur Feldforschung und zur Erarbeitung von Studien, die am Ende des Kurses vorzulegen waren. Dieser zweite Teil wurde mit einer Besprechung des Anhangs der Theory mit dem Titel „Some Preliminary and Preparatory Exercises and Problems“ eingeleitet.

(…)


Text basierend auf Niederschriften des von A.A.Bispo geleiteten Oberseminars

„Aktuelle Probleme anthropologischer Musikwissenschaft“ an der Universität Bonn 2003 und des Hauptseminars zur kulturwissenschaftlich orientierten Musikforschung an der Universität Köln 2005.