AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

50 jahre hochschullehre und forschung
antonio alexandre bispo

urprungsfragen

urklang, symbolik


rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien

1970-1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo

fachbereiche
ästhetik, wahrnehmung, strukturaktionstheorie, fundamente der expression und kommunikation des menschen

Marius Schneider

1903-1982

Text basierend auf Niederschriften der Vorlesungsreihe „Musik in der Begegnung der Kulturen“ von Prof. Dr. A. A. Bispo, Universität Köln 1997-2000, der Seminare „Musik und Symbolik“ sowie „Musik & Religion“ an der Universität Bonn 2003 sowie der Lehrveranstaltungen zu dem kulturwissenschaftlichen Ansatz in der Musikwissenschaft, zu Musik und Gnosis und Musik im Denken der Antike in Köln 2005-2008.

Marius Schneider spielte eine grundlegende, gleichsam schicksalhafte Rolle bei der Entwicklung der Kultur- und Musikstudien in Brasilien. Es gab keinen deutschen Musikforscher, der eine vergleichbare nachhaltige Wirkung auf einen Prozess internationaler, auf Brasilien zurückgehender und auf Lateinamerika bezogener Beziehungen ausübte, die über Jahrzehnte andauerte.


Diese seine herausragende Bedeutung erklärt sich dadurch, dass er wie wenige Musikforscher Deutschlands eingehende Kenntnisse iberischer Traditionen besaß und durch die Auseinandersetzung mit der Bildersprache von Spielen, Musik und Tänzen Zugang zu einer Kultur- und Musikforschung von Volkstraditionen europäischen Ursprungs Lateinamerikas hatte.


Seine Publikationen wurden in volkskundlichen Kreisen Brasiliens eingehend studiert und Mitte der 1960er Jahren bei Besprechungen von Volkskundlern und Musikforschern im Tonarchiv der Stadt São Paulo – ehemals Discoteca Pública Municipal – unter der Leitung von Oneyda Alvarenga (1911-1984) diskutiert. Durch das zunehmende Interesse für die Semiotik und Kommunikationstheorie in verschiedenen Wissensbereichen gewannen seine Publikationen an Bedeutung. Sie förderten die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Kultur- und Musikstudien und legten den Grundstein für eine kulturologisch orientierte Musikforschung.


Die Übersetzungen einiger seiner Texte ins Spanische und Portugiesische ermöglichten einen breiteren Zugang zu seiner Denkweise und zu den Ergebnissen seiner Forschungen. Die portugiesische Übersetzung seines Beitrags zu Fragen des Ursprungs, der in der Enzyklopädie de la Pléiade erschienen war, wurde zur Basislektüre in Kursen der Musikethnologie, als diese im Hochschulrahmen zu Beginn der 1970er Jahren eingeführt wurde. Seitdem prägten Überlegungen zu Fragen des Anfanges, des Ursprungs im Welt- und Menschenbild die Diskussion in der Musikwissenschaft, in der Bildersprache katholischer Festpraktiken, aber auch  in der Musikforschung indigener Kulturen.


Die Beziehung zu Marius Schneider war auch der Grund, dass eine engere Zusammenarbeit mit Vertretern der Vergleichenden Musikwissenschaft Deutschlands bei der Institutionalisierung der Ethnomusikologie in São Paulo zu Beginn der 1970er Jahren als geboten erschien, was durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst ab 1974 ermöglicht wurde. Der Aufenthalt in Köln, der eine temporäre Vertretung für das Fach Musikethnologie an der Musikfakultät São Paulos erforderlich machte, sollte dem Beginn einer engen Kooperation zwischen europäischen Universitäten und der Fakultät des Musikinstituts São Paulo dienen.


Die Ergebnisse von Studien und die neuen Ansätze einer kulturwissenschaftlichen, auf Prozesse ausgerichteten Forschung, die viele Fragen hinsichtlich der Deutungen von Marius Schneider aufkommen ließen und Korrekturen erforderten, sollten mit ihm an der Universität Köln besprochen werden. Er wurde jedoch zu Beginn des Aufenthaltes in Köln in den Ruhestand versetzt, wodurch die Gespräche in den folgenden Jahren nur sporadisch durchgeführt werden konnten.


Dennoch wirkte die Orientierung des Denkens von Marius Schneider für die folgenden Debatten über Bildersprache und ihrer Deutung sowie zu Fragen des Ursprungs weiterhin fruchtbar fort.


Die Studierenden der Ethnomusikologie São Paulos hatten als Basistext zur Diskussion über die Auffassungen von M. Schneider seinen Beitrag zur Rolle der Musik in der Mythologie und Riten der außereuropäischen Kulturen, der in portugiesischer Übersetzung zur Verfügung stand. Schneider erklärte einleitend sein Vorhaben, das Gebäude von Ideen zu rekonstruieren, die die antiken Hochkulturen und die „primitiven Völkern“ über die Natur der Musik gebildet hatten.


Dieses Ansinnen wurde dadurch erleichtert, dass Gemeinsamkeiten trotz der Verschiedenheiten nach Regionen und Zeiten zu erkennen sind, was die Annahme eines gemeinsamen Ursprungs stützte. Fraglich wäre es, ob diese Gemeinsamkeiten auf Eigenarten der menschlichen Psyche zurückgingen oder Ergebnissen von bestimmten Kulturzyklen darstellten. Der Stand der Forschung erlaubte es nicht,  die Ideen von „wahrhaft primitiven Kulturen“ mit Klarheit zu identifizieren, auf die die alten Kulturen allmählich ihre Gebäude von Auffassungen und Vorstellungen errichteten. Sicher erschien es lediglich, dass die Auffassung von nicht-Substanz als Substrakt des Universums bereits bei den primitivsten Völker zu finden waren, währen die Mehrheiut der Symbolen und der praktischen Anwendung der Auffassung der nicht-Substanz eine Leistung megalitischer Kulturen waren. Residuen dieser Kosmogonien fanden sich auch in altem Europa. Aus diesem philosophischen Grundsystem überlebten nur Fragmenten, die in verschiedenen Kontexten zersplittert sind. In seiner Studie, Schneider suchte diese einzelnen Residuen zu ordnen und die Logik aufzufinden, die diese zersplitterten Auffassungen in einem Ganzen zusammengefügt hatten. Schneider verglich seine Verfahrensweise mit der Rekonstruktion eines Gemäldes, von dem nur noch zersplitterten und unvollständigen Kopien erhalten sind. Aus diesem Versuch der empírischen Zuordnung von Elementen würden Ideen resultieren, die er in systematischer Weise in seiner Studie darlegte.


Er stellte zunächst die Behauptung dar, die Götter wären Gesänge. Dabei ging er von der Feststellung der verbreiteten Annahme einer Erschaffung der Welt als Klang bzw. ein schöpferischeer Klang der Welt. Dieser Klang wäre zugleich Klang-Licht, da in vielen Mythen davon erzählt wird, dass die ersten Schöpfungsgesänge mit sich das Licht oder die Morgendämmerung brachten. Verbreitet war die Idee der Stimme eines allmächtigen Gottes, der fern ist, während für die Schöpfung der Welt einem anderen beauftragt ist. Schneider behandelte die verschiedenen Identifizierungen der Stimme, die die Materie schuff. Die Idee eines tönenden Opfers wurde von ihm vor allem aus Mythen ausgearbeitet. Da die schöpferische Sprache der Götter ein Licht-Klang war, alle Wesen und alle Gegenstände der Welt gehen von ihm aus, wären Lichthymnen, die die Ideen des Schöpfers widerspiegelten, gleichsam akustische Bilder. Die Auffassung eines Widersachers wurde von ihm vor diesem Hintergrund als einen Gesang und einen Gegengesang, aus denen die Menschheit entsteht, verstand. Die Erscheinung des Menschen wurde von ihm ausgehend von einem Grundbild erläutert: die Erde, die der Kulturheros und der Kriegsgott ordnen und verwalten, wird als eine Insel mit einem Berg dargestellt, auf dem eine tönenen Baum bzw. zwei tönenden Bäumen stehen und den Kosmos und deren Konstellationen versinnbildlichen.


Ein wesentlicher Aspekt der Theorie von Schneider lag in der Feststellung einer klanglichen Substanz des Menschen. Da der Mensch aus dem Klang hervorging, sein Wesen bleibt für immer akustischer Natur.  Die Stimme ist der Mensch, der Gesang ist die Seele oder Vehikel der Seele. Daraus entwickelte Schneider die Auffassung von der akustischen Natur der Bindungen zwischen Götter und Menschen. Der Kulturheros brachte die Musik zur Menschheit. Die Musik wäre Nahrung der Götter. Schneider betrachtete die verschiedenen Funktionen des Kulturheros nach den Überlieferungen verschiedener Kulturen, insbesonders Chinas. Mittels der Musik könnten die Menschen die Götter nachahmen, eine Auffassung, die er im Sinne einer kosmische Stellung des singenden Magiers und dessen Gesang betrachtet. Erstaulich war seine Schlussfolgerung, die Musikinstrumente wären Götter, die aus der Opfer entstanden.


Ein ausgedehntes Unterkapitel seiner Studie ist der Einbeziehung der Musik in den kosmogonischen Spekulationen der Philosophen Indiens und Chinas. Schneider erörterte die soziale Stellung des Musikers vor dem Hintergrund dieser kosmischen Bedeutung der Musik und die Symbolik der Musikinstrumente. Die Zeremonien nahmen ihrer Wirksamkeit aus der Musik. Die Interaktion zwischen Himmel und Erde würde geordnet werden von der durch die Riten visuell gewordene Musik. Schneider ging in seiner Studie auf die Todesriten ein, deren Bedeutung darin begründete, dass die Toten Gesänge sind, die zum Haus der Gesänge zurückkehren, sowie auf die Musik bei Geburts- und Beschneidungsriten, der Jahreszeiten, der Ehezeremonien und der Heilung ein. Schließlich widmete er sich dem Weiterleben des magischen Denkens in ästhetischen Ideen und beendet seine Ausführungen mit Betrachtungen des OM.


Die verwirrende Komplexität des Textes von Schneider verlangte mehrere Unterrichtseinheiten, um besprochen zu werden. Nach seiner eigenen Ausgaben, sein Text konnte sich auf keine Fachliteratur stützen. Als Einführung in die Thematik schlug er Publikationen zu nativen Völkern von Zentralaustralien, zu Überlieferungen und Tänze Chinas, zu Schöpfungsvorstellungen im Mythen afrikanischer Völker und vor allem zur Religion und Musik Indiens, unter anderen auch die Théorie métaphysique du Verbe von Daniélou (Paris 1949) vor.  


Bei der Diskussion, bei der Theologen und Religionsforscher teilnahmen, wurde die Problematik der Verfahrensweise von Schneider hervorgehoben. Sein Anliegen der Rekonstruktion eines Systems aus Überlieferungen verschiedener Kontexte führte zu einem konfusen Konglomerat, das selbst eine Art religiöses Weltbild darstellte. Es ähnelte Lehrgebäuden von Weltanschauungen esoterischer Art, wie sie aus der Theosophie und Anthroposophie in São Paulo bekannt waren. Die willkürliche und ungenauen Deutung des Schöpfungsgedankens in ihrem Verhältnis zum Wort wurde aus der Sicht der Genesis von Theologen bemängelten. Der Text dürfte als einem, vergleichenden religionswissenschaftlichen Essay verstanden werden, der allerdings wissenschaftliche Kriterien einer vergleichenden Religionsforschung nicht genügte.


Offenbar wurde Schneider maßgeblich durch Wilhelm Schmidt SVD (1868—1954), vor allem durch das Werk Der Ursprung der Gottesidee (Münster 1929-55) - geprägt. Dadurch erklärte sich seine Nähe zur Wiener Schule der Kulturkreislehre und des Diffusionismus. Diese Nähe zu einer bestimmten Linie der Religions-und Kulturgeschichtliche Forschung innerhalb der katholischen Theologie sollte ab 1975 in Köln und Rom mit ihm selbst diskutiert werden. Wilhelmn Schmidt war als Ethnologe auch verantwortlich für die Organisation der ethnologischen Materialien der Glaubenskongregation, der alten Propaganda Fide für das vatikanische Museum für Ethnologie, die in den 70er und 80er Jahre nach Revisionen rief.


Für die kritische Auseinandersetzung mit der Studie von Marius Schneider war Brasilien und insbesonders die Fakultät des Musikinstituts São Paulo geradezu prädestiniert. Die Bedeutung der indigenen Gruppen und der Kulten afro-brasilianischer Prägung, der katholischen Mystik und vor allem der esoterischen, theosophisch und anthroposophischen Strömungen, mit denen der Leiter des Instituts in seiner Jugend verbunden war, erlaubten, die Ungereintheiten der Deutungen von Schneider und den willkürlichen Konstrukt seiner Systematisierung zu erkennen. Die herausragende Bedeutung des studierten Textes lag darin, dass durch Schneider die Sensibilität für die Notwendigkeit des religionswissenschaftlichen Ansatzes in der Kultur- und Musikbetrachtung schärfte.