AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT 

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

50 jahre hochschullehre und forschung
antonio alexandre bispo

turkologie

in musikstudien


rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien

1970-1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo

fachbereiche
ästhetik, wahrnehmung, strukturaktionstheorie, fundamente der expression und kommunikation des menschen

Ahmed Adnan Saygun 

1907-1991

Die türkische Musik gehörte zu einem der besonders beachteten Gegenstände der Studien im 1972 eingeführten Fach Ethnomusikologie der Fakultät des Musikinstituts São Paulo. In der Stadt lebte eine bedeutende Anzahl von Türken und ihrer Nachkommen, die besonders am Handel aktiv teilnahmen und deren Präsenz Straßen und Viertel prägte. Ihre Kinder besuchten Schulen und sollten mit ihren Kultur- und Musiktraditionen sowie Lebensweisen von den Musik- und Kunsterziehern beachtet werden, die sich an der Fakultät für ein Lizenziat aus- oder fortbildeten. 


Die Türken und die türkischstämmigen Gruppen und sozio-kulturellen Netzwerke wie auch von anderen Bevölkerungsgruppen des Nahen Ostens – Libanesen, Syrern u.a. – wurden um 1970 zunehmend zum Ziel sowohl urbanologischer Stadtanalysen an der Fakultät für Architektur der Universität São Paulo als auch der Musikstudien, die sich auf die Ausbildung von Musik- und Kunstlehrern richteten. 


Volkskundler und Sozialwissenschaftler hatten in Publikationen die Rolle türkischer Händler in der Geschichte Brasiliens in der Vergangenheit studiert, die mit den Karawanen auf Handelswegen, sei es in Richtung der Expansion nach Süden, sei es nach Zentralbrasilien und Amazonas, maßgeblich zum Austausch nicht nur von Waren, sondern auch von Informationen zwischen den Städten und Ortschaften beitrugen und somit Agenten von Prozessen  wurden. 


Die besondere Beachtung der türkischen Musik im Fach Ethnomusikologie an der Musikfakultät erklärte sich jedoch vorwiegend durch die jahrzehntelangen Beziehungen der Leitung des Musikinstituts – die bis 1971 Martin Braunwieser (1901-1991) innehatte – zur türkischen Musikkultur, was auch die Geschichte der Vergleichenden Musikwissenschaft in Brasilien prägte. Seit Jahrzehnten stand dieses Interesse für die türkische Musikkultur mit Erziehungsgedanken in Beziehung. 


Die wissenschaftliche und schöpferische Auseinandersetzung mit der türkischen Musik von Martin Braunwieser ist aus dem Kontext seiner Studien- und Jugendzeit in Salzburg  während und nach dem ersten Weltkrieg und in Südosteuropa vor seiner Auswanderung nach Brasilien zu erklären. Er fügte sich ein in die Wandlungsprozesse, die zum Zusammenbruch zweier Vielvölkerstaaten führten und ihnen folgten, der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie und des osmanischen Reiches. 


Die Annährung an die zukunftsweisenden Strömungen des Denkens und Schaffens des Westens nach dem Krieg, die die „Saudades do Brasil“ von Darius Milhaud (1892-1974) als wichtiges Emblem hatten, verband sich mit der Faszination für den Osten. Während andere seiner Lehrer und Kollegen sich dem Fernen Osten, Indien oder der christlichen Vergangenheit von Byzanz zuwendeten, galt sein Interesse vor allem der Türkei und der mystischen Tradionen des Mevlevi-Ordens. Seine Frau, Tatjana Kipmann, die mit ihrer Familie aus dem russischen Zarenreich nach Istambul kam, brachte Erfahrungen und Kenntnissen mit sich, die sie  aus dieser Zeit in der einflussreichen deutschsprachigen Gemeinde Istambuls gewann. In seiner Wirkungszeit als Professor des Konservatoriums in Athen vertrat das Ehepaar zwischen 1923 und 1927 die reformerischen Bestrebungen bei der Erneuerung der Institution durch den Anschluss an die Tendenzen des Westens, die ihre Parallele in der Reform der türkischen Institutionen nach der Gründung der Republik 1923 hatten. 


Aus dieser Zeit stammten die Werke Braunwiesers, die sich mit der türkischen Musik schöpferisch auseinandersetzten. Die Beziehungen der Türkei zu Brasilien fügten sich in die Erneuerungsbewegungen ein, die Paris als Ausstrahlungszentrum hatten, und waren somit auch mit der frankophonen und frankophilen Welt verbunden. Die Beziehungen zwischen der Türkei und den in Paris weilenden brasilianischen Musikern fanden einen neuen Höhepunkt in der Einladung, die der Pianist und Komponist João de Souza Lima (1898-1982) Ende der 1920er Jahren für seine Auftritte in Istambul erhielt. Auch durch diese renommierte Musikerpersönlichkeit war das Interesse für die Türkei in Kreisen São Paulos über Jahrzehnte lebendig geblieben. Es ist bezeichnend, dass eine der ersten Kompositionen, die Martin Braunwieser in São Paulo schuf und veröffentlichte, ein Werk für Klavier zu 4 Händen über türkischen Kindermelodien für die Erneuerung des Klavierrepertoires und des Klavierunterrichts am Konservatorium für Musik und Drama São Paulos war.


Unter den türkischen Komponisten und Musikforschern, die für Braunwieser und Souza Lima von Bedeutungen wurden, hob sich Adnan Saygun hervor. Durch ihn stellten sie eine Beziehung zwischen der Gruppe des Six Frankreichs und der Gruppe der Fünf der Türkei her. Auch Saygun war mit der Musikwelt von Paris besonders verbunden, wo er u.a. an der Schola Cantorum studierte. In der Musikkulturforschung wurde sein Name besonders durch seine Mitwirkung an der Forschungsexpedition von Béla-Bartók (1881-1945) nach Anatolien geprägt. Dadurch wies seine Karriere gewisse Paralellen zu der Braunwiesers in Brasilien auf, der ebenfalls an der zukunftsweisen Forschungsexpediktion des Kulturamts São Paulo in den Nordosten Brasiliens als Musikethnologe teilnahm. 


Vor diesem Hintergrund  ist es zu erklären, dass die Berücksichtigung der türkischen Musik in der Ethnomusikologie in São Paulo eng mit der Beachtung der Geschichte der Forschung und der Denk- und Sichtweisen von Saygun selbst efolgte. Den Studierenden lag als Grundtext der Artikel zur türkischen Musik von Saygun in portugiesischer Übersetzung vor, der in der Enzyklopädie Musik der Pléiade erschienen war. 


In diesem Text stellte Saygun in Folge einer historischen Einleitung die Brücke zwischen der Musiktheorie und der Erneuerung des Musikschaffens her, was auch die Auffassungen von Braunwieser prägte. Die Musiktheoretiker standen im allgemeinen in einer auf die Spätantike und das Mittelalter zurückgehenden Tradition des Denkens, die auf eine Umkehrung der Deszendenz in der Modalität und der tetrachordalen Struktur in einer Aszendenz zurückwies. 


Saygun selbst versuchte eine ursprünglich absteigende Ausrichtung des modalen Systems zurückzugewinnen und eine Abkehr von einer Struktur in Quarten und Quinten in seinen Kompositionen anzuwenden. Damit wurde ein Problem angesprochen, das eine enge Zusammenarbeit zwischen der  Ethnomusikologie und Ästhetik sowie der Kompositionsklasse der Musikfakultät erforderte. Seine Ansichten entsprachen der seit langem bei Studien der Geschichte der Musiktheorie und Modalität untersuchten Umkehrung der Deszendenz durch die Aszendenz und wurden von Erwägungen über eine umfassende Kultwandlung in den ersten Jahrhunderten der christlichen Ära und mit dem Verchristlichungsprozess begleitet. 


Dementsprechend wurden diese Überlegungen auch in Bezug  auf theoretische Fragen hinsichtlich der brasilianischen Musikkultur interdisziplinär in der Musikfakultät diskutiert. Standen die Studien zur Modalität in der brasilianischen Musiktradition wie bei der Erforschung der Modi in der Musik des Nordostens auf unzureichend reflektierten Grundlagen? Waren die Bemühungen zur Schaffung einer „akkulturierten“ Kirchenmusik mit dem Rekurs auf die Modalität theoretisch fragwürdig? Waren ebenfalls neomodale Entwicklungen im Musikschaffen – wie bei Ernst Mahle – musikästhetisch problematisch? Wurde vor allem der Wechsel von der Deszendenz zur Aszendenz in Studien des Kulturwandels indigener Gruppen im Verlaufe der Missionierung und des Kontaktes mit der vorherrschenden Gesellschaft beachtet?


Die Gewichtigung, die Saygun in seinem Beitrag zu theoretischen Fragen der Oktaveinteilung und der Modi sowie der Rhythmik legte, bestimmte die Behandlung der türkischen Musik in der Ethnomusikologie in ihrer engen Zusammenarbeit mit dem Fach Ästhetik und der systematischen „Estrutução“ (Strukturaktionstheorie). Für die praktischen Zwecke der Ausbildung von Musikerziehern für die Schulen, die von türkischstämmigen Kindern besucht wurden, waren allerdings Kenntnisse über Instrumente – u.a. Tanbur, Ud, Kanum, Kemençe, Ney, Nisfiyye, Küdum, Halile/Zil  oder Def – von unmittelbarer Bedeutung. Ebenfalls für die pragmatischen Zwecke des Umgangs mit den türkischen Traditionen in der Immigration waren die Informationen von Saygun zur türkischen Musikfolklore, ihren Modi und Instrumenten wichtiger. 


Aus dem Grundtext konnten die Studierenden über die Beziehungen von Tänzen Zeybek, Halay, Bar, Horon und dem sogenannten Tanz der Löffel zu fünf Regionen der Türkei erfahren. Die bereits im Schuldienst stehenden Studierenden wurden aufgefordert, die in São Paulo praktizierten türkischen Volkstänze zu erheben, zu identifizieren und sie in Beziehung zur regionalen Herkunft der Eingewanderten zu betrachten. Eine besondere Aufmerksamkeit galt den Blasinstrumenten – Zurna, Mey, Argun, Jkaval und Tulum-Zurna – sowie den Schlaginstrumenten – vor allem dem Davul –, die in São Paulo zu beobachten waren.


Diese Studien zur türkischen Musik wurden ab 1975 von Europa aus fortgesetzt. Sie führten u.a. 1986 zu Studien in der Westtürkei, 2003 in der Region des Schwarzen Meeres, 2013 in Anatolien und in der Osttürkei und 2014 erneut in Istambul. Die Beziehungen zwischen Brasilien und der Türkei in der Ethnomusikologie und in der Musikgeschichte São Paulos wurden 2004 beim Internationalen Kolloquium interkultureller Studien am Centro Cultural São Paulo zum Anlass der Gründung der Stadt vor 450 Jahren hervorgehoben.

Text basierend auf Niederschriften des von A.A.Bispo geleiteten Oberseminars 

„Aktuelle Probleme anthropologischer Musikwissenschaft“ an der Universität Bonn 2003 und des Hauptseminars zur kulturwissenschaftlich orientierten Musikforschung an der Universität Köln 2005.