AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

50 jahre hochschullehre und forschung
antonio alexandre bispo

syrio-libanesische studien


rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien

1970-1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo

fachbereiche
ästhetik, wahrnehmung, strukturaktionstheorie, fundamente der expression und kommunikation des menschen

Simon Jargy
1919-2001

Die Befassung mit der tradierten Musik des Nahen Ostens im Fach Ethnomusikologie der Fakultät für Musik und Kunsterziehung des Musikinstituts São Paulo von 1972 bis 1974 bedeutete die Institutionalisierung auf Hochschulebene von Studien und Überlegungen, die seit 1967 durchgeführt wurden. Sie wurden zugleich zum Ausgangspunkt einer Entwicklung in der Musikforschung und von Kooperationen, die sich über Jahrzehnte hinzogen, in den 1980er und 1990er Jahren intensivierten und in der Mitwirkung an einer internationalen Tagung im Libanon im Jahr 2000 gipfelten.


Diese Entwicklung internationaler Zusammenarbeit im Bereich der Musikethnologie kann unter vielen Aspekten nur aus ihren Anfängen im Kontext der syro-libanesischen Migration in São Paulo angemessen betrachtet werden. Eine große Zahl von Libanesern und Syrern und ihren Nachkommen lebte in São Paulo, wo auch eine vitale christliche Gemeinde bestand, die ihren Ausdruck im Bau einer repräsentativen und architektonisch bedeutenden Kirche fand. Die Sorge der syro-libanesischen Familien, ihren Kindern eine Musikausbildung – vor allem im Klavierunterricht der Töchter – zukommen zu lassen, entsprach dem Wunsch nach sozialem Aufstieg und Anerkennung der auch durch den Handel wirtschaftlich erfolgreichen Eingewanderten.


Angehende syro-libanesische Pianistinnen spielten eine aktive Rolle bei der Bewegung zur Erneuerung von Kultur- und Musikstudien durch die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Prozesse, die zur Gründung der Gesellschaft Nova Difusão 1968 führte. Das zugleich gegründete Zentrum für Forschungen in Musikologie bildete eine Arbeitsgruppe, die neben der Gregorianik auch die Gesänge der christlichen Kirchen des Nahen Ostens studierte und einübte.


Dabei wurden vor allem die Studien von Dom J. Jeannin OSB (1866-1933) besprochen, u.a. die Mélodies liturgiques syriennes et chaldéennes, introduction musicale (Paris 1924). Bei dem zusammen mit dem Kulturamt der Stadt São Paulo veranstalteten Herbst-Festival, das die neuen, urbanologischen Ansätze der Kulturarbeit erprobte, wurde eine Messe mit gregorianischen Choral in der Kirche Unsere Frau von Libanon realisiert, der ein Kolloquium zu den Musiktraditionen des Nahen Ostens aus der Perspektive der syro-libanesischen Immigration und deren Interaktionen mit anderen Gruppen von Migranten der Großstadt folgte, das die erste Veranstaltung dieser Art war.


Mitglieder der Familie Chebl trugen maßgeblich zu den Arbeiten der Nova Difusão bei. Sie ermöglichten die Etablierung des Zentrums für Forschung der Nova Difusão in dem von ihr erworbenen traditionsreichen Musikkonservatorium Jardim America, dessen künstlerische Leitung von Laís Chebl der Gesellschaft Nova Difusão übertragen wurde.


Die Institution wurde 1970 zu einem Zentrum der Reform des Lehrplanes der Musikschulen des Staates. Die Orientierung des Konservatoriums wurde kultur- und musikwissenschaftlich geprägt. In das Repertoire der Musikschüler wurden zeitgenössische Werken eingeführt. Das Studium der Musikgeschichte wurde auf 3 Jahre erweitert, die Zeitgenössische Musik als Kursus eingeführt und ein Laboratorium für Synästhesie geschaffen.


Mehrere herausragende zeitgenössische Komponisten hielten bei Veranstaltungen des Zentrums Vorträge ab. In kulturwissenschaftlicher Hinsicht arbeitete das Zentrum eng mit dem Museum für Volkskünste und -techniken São Paulos zusammen, da dessen Direktor, der Volkskundler Rossini Tavares de Lima (1915-1987), staatlicher Inspektor des Konservatoriums war.


Damit wurden die Debatten zur Volksmusikforschung und zur Erneuerung der Auffassungen der Kulturstudien, u.a. durch die Ausrichtung auf die Alltagskulturforschung, in enger Zusammenarbeit mit dem Zentrum für musikologische Forschung der Nova Difusão durchgeführt. An dieses Interesse für die arabische Musik  bei den Volkskundlern São Paulos wurde von Maria do Carmo Vendramini beim ersten brasilianischen Kongress für Musikwissenschaft 1987 erinnert. Eine bedeutende Rolle bei den Arbeiten der Nova Difusão spielte die Pianistin und Komponistin Maria Teresa Chebl (Terão Chebl), die ihre Ausbildung bei Tatjana und Martin Braunwieser erhielt.

Als Grundtext für das Studien der Musik des Nahen Ostens in der Ethnomusikologie diente der Aufsatz zur Volksmusik des arabischen Nahen Ostens von Simon Jargy in der Enzyklopädie der Pléiade, der in portugiesischer Übersetzung zur Verfügung stand.


Simon Jargy war in den syro-libanesischen Kreisen São Paulos durch seinen Einsatz für die Erhaltung der orientalischen Musiktraditionen und Verbreitung von Kenntnissen über diese sowie über ihre Publikationen bekannt. Geboren in Mardin als die Stadt unter französischer Besetzung im damaligen Syrien stand, wurde er als ein bedeutender Vertreter des syrischen Christentums anerkannt. Sein Name war auch in kirchenmusikalischen Kreisen Brasiliens bekannt, da er beim Internationalen Kongress für Kirchenmusik in Rom 1950 einen Vortrag über die liturgische syrische Musik hielt.  Er führte Studien bei den Benediktinern in Jerusalem und am syrisch-katholischen Seminar von Charfet im Libanon durch. In Paris promovierte er 1951 an der École Pratique des Hautes Études mit einer Arbeit zum Christentum in Syrien.


Sein Einsatz für das Studium der traditionellen Musik und Dichtkunst des Nahen Ostens intensivierte sich bei Forschungen im Libanon, in Syrien und im Irak im Auftrag des Centre National de la Recherche Scientifique 1954/55 und 1958. Er schrieb die Eintragungen zur libanesischen und syrischen Musik für die Enzyklopädie der Musik Fasquelle 1958. Die Ergebnisse dieser Studien veröffentlichte er u.a. in einer Publikation zur gesungenen traditionellen Volksdichtung des arabischen Nahen Ostens, die 1970 erschien und bei der Einführung der Ethnomusikologie in Brasilien rezepiert wurde. Als Professor für Islamistik und arabische Studien an der Genfer Universität organisierte er 1970 erste Konzerte des irakischen Lautenisten Mounir Bashir, dessen Karriere er tatkräftig förderte. Sein Buch La musique arabe in der Reihe Que sais-je erfuhr in Brasilien eine weite Verbreitung und diente 1971 zur Vorbereitung der Lehrveranstaltungen an der Musikfakultät.


Durch den verwendeten Grundtext von Jargy zur Volksmusik des Nahen Ostens erfuhren die Studierenden, dass es keine „arabische Musik“ gibt und dass die Musik des Nahen Ostens mit der der Türkei und von Persien verwandt ist. Jargy erinnerte an al-Farabi, Avicena und an die theoretischen Traktate und hob Ägypten als Zentrum arabisch-europäischer Musik hervor. Er unterschied zwischen Musikkultur der Beduinen, der „semi-beduinischen Musik“ und Folklore. Er wies auf die traditionelle Musik aus vor-islamischer Zeit hin, behandelte die „Folklore der Wüste“ (Hida, Hija, Madih, Ghazal, Marathi). Er erwähnte antike Autoren, gnostische Gesänge und vor allem Ephrem den Syrer. Dabei wies er auf Beziehungen zwischen der Musik arabischer Völker und der christlichen, hebräischen und „heidnischen“ Musik des Ostens hin.


Eine besondere Bedeutung für die angehenden Musikerzieher, die an Schulen mit syro-libanesischen Kindern und Jugendlichen arbeiteten, waren seine Ausführungen über den aktuellen Zustand der Volksmusik in ihrer vorherrschenden Beziehung zur literarischen Form sowie über die improvisierenden Dichter (Cha’er), über Ataba – melancholischer Freundschaftsgesang – und Gaeîda in deren beiden Erscheinungsformen, der libanesischen und der syrischen.


Durch die bedeutende Anzahl von Libanesen in São Paulo wurden seine Ausführungen über die Folklore des Libanon besonders beachtet. Allerdings wurde sein Konzept von Folklore im Lichte der anders gearteten Tendenzen der Erneuerung von Begrifflichkeit und vom Gegenstand der Folklore-Forschung in São Paulo kritisch diskutiert. Die Studierenden, die nähere Kontakte zu libanesischen Schülern hatten, sollten durch Beobachtung und Befragungen die Pflege dieser Musiktraditionen feststellen und ihre Veränderungen in der kosmpolitischen Großstadt untersuchen.


Ab 1977 wurde die Beschäftigung mit der Musik des Nahen Ostens durch die Arbeit an der Abteilung für Musikethnologie des Instituts für hymnologische und musikethnologische Studien in Köln/Maria Laach fortgeführt. Bei internationalen Kongressen für Kirchenmusik in Bonn 1979 und Rom 1985 wurde der Gedankenaustausch mit Vertretern der Musikforschung Libanons fortgeführt.


Die Berufung des Musikwissenschaftlers Louis Hage zum Vorsitzenden der internationalen Organisation für Kirchenmusik verstärkte die Zusammenarbeit. Er nahm in dieser Funktion an dem vom ISMPS initiierten Internationalen Symposium Ferner Osten und Abendland in Portugal teil und organisierte ein internationales Symposium an der Universität Kaslik in Beiruth. Bei einer Ansprache im Präsidentenpalast Libanons, bei dem das Anliegen, eine Tagung bei den Libanesen in São Paulo abzuhalten, besprochen wurde, musste allerdings ein solches Projekts unter der gegenwärtigen politischen Situation als nicht realisierbar abgesagt werden.

Text basierend auf Niederschriften des von A.A.Bispo geleiteten Oberseminars

„Aktuelle Probleme anthropologischer Musikwissenschaft“ an der Universität Bonn 2003 und des Hauptseminars zur kulturwissenschaftlich orientierten Musikforschung an der Universität Köln 2005.