AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

50 jahre hochschullehre und forschung
antonio alexandre bispo

südostasiatische

studien


rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien

1970-1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo

fachbereiche
ästhetik, wahrnehmung, strukturaktionstheorie, fundamente der expression und kommunikation des menschen

Tran Van Khê

1921-2015

Das erhöhte Interesse für Südostasien in der öffentlichen Meinung Brasiliens der 1960er und der 1970er war durch die Nachrichten über den Vietnam-Krieg verursacht. Die Greuel des Krieges und die Rolle des USA gaben Anlass zu politischen Diskussionen und Aktionen in Studenten- und Intellektuellen-Kreisen und beeinflussten maßgeblich Bewegungen, die sozial- und kulturkritisch eingestellt waren und auf eine Erneuerung von Denk- und Sichtweisen drängten. Nicht nur die Protestlieder, sondern auch die Vitalität neuer Tendenzen in der Popularmusik waren um 1968 bestimmt von der Gefühlslage und von Welt- und Lebenssichten nicht nur durch die nationale Unterdrückungssituation unter einer Militärdiktatur, sondern auch durch die internationale politische Lage, die eng mit dem Vietnam-Krieg zusammenhing.  


Die damalig Aktualität von Vietnam erklärt auch das Interesse für die vietnamesische Musik und Kultur, die im Fachbereich Ethnomusikologie des Musikinstituts São Paulo von 1972 bis 1974 behandelt wurden. Den Studierenden lag als Grundtext der Artikel zur vietnamesischen Musik von Tran Van Khê in der Enzyklopädie Pleiade in portugiesischer Übersetzung vor.


Der Autor hatte 1958 mit der Dissertation zur traditionellen vietnamesischen Musik an der Sorbonne promoviert. Durch die Orientierung brasilianischer Intellektueller und Musikgelehrter nach der Literatur und den Entwicklungen des Denkens und Forschens Frankreichs war das frühere Indochina auch unter dem Aspekt der Musik nicht unbekannt. Die Kenntnisse über die Musik Indochinas stammten aus französischen Publikationen, die in Brasilien seit dem 19. Jahrhundeert rezipiert wurden. Führend war u.a. der Beitrag von Gaston Knosp (1874-1942) zur Geschichte der Musik Indochinas in der Encyclopédie de la Musique et le Dictionnaire du Conservatoire von Lavignac (V, 3000-3146).


Tran Van Khê erschien – wie auch andere Autoren der Pleiade – als Erneuerer von Ansichten, die durch die älteren Publikationen verbreitet wurden. Die Analyse der Diffusion von Wissen und Auffassungen war zentrale Aufgabe der 1968 in São Paulo gegründete Gesellschaft Nova Difusão, die Kulturwissenschaft in engem Zusammenhang mit dem Studium der Forschung selbst und der Kulturkonditionierung der Forscher zu betreiben bestrebt war. Die Aufmerksamkeit richtete sich bei der Besprechung des Grundtextes nicht nur auf die in ihm vermittelten sachlichen Informationen über Musikinstrumente, Gattungen und Musiksysteme, sondern auf Tran Van Khê selbst und auf die aus der Kolonialzeit zu erklärenden Beziehungen zu Frankreich und zur französischen Geistesgeschichte.

Die in dem Text vermittelten Informationen waren verhältnismäßig spärlich. Der Autor erörtete einleitend die Stellung Vietnams zwischen der indischen und chinesischen Musiksphäre im Verlaufe der Geschichte und unterschied drei Phasen der Entwicklung vietnamesischer Musikkultur: eine vorherrschend von Indien geprägte vom 10. bis Anfang des 15. Jahrhunderts, eine vorherrschend von China bestimmte vom 15. bis Ende des 18. Jahrhunderts und eine rezente seit dem 19. Jahrhundert bis zum II. Weltkrieg, in der Vietnam zu einer musikalischen Originalität gelangte, obwohl die westlichen Einflüsse zunahmen.


Diese Sicht der Geschichte und ihrer Periodisierung wurde unter dem Aspekt der Methodologie der Geschichte diskutiert, da zu dieser Zeit methodologische Probleme der Geschichtswissenschaft an der Universität São Paulo im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit standen. Die Darstellung von Musikinstrumenten in diesem Aufsatz ließ auch eine wenig vertiefte Auseinandersetzung mit allgemeinen theoretischen Problemen der Organologie erkennen.


Eine besondere Aufmerksamkeit galt seinen Ausführungen über die Musiktheorie Vietnams. Sie ließen systematische Auffassungen über Entwicklung des Tonsystems erkennen, die aus der vergleichenden Musikwissenschaft und vor allem aus den Vorlesungen von Jacques Chailley (1910-1999) an der Sorbonne bekannt waren, die als Grundtexte im Fach Estruturação des Fachbereiches Ästhetik verwendet wurden.


Da nach ihm weder von Modi noch von Tonalitäten gesprochen werden könne, führte er den Begriff „modale Systeme“ für die Kennzeichnung der zwei Diéu oder Giong ein. Das modale System Bac war mit Stimmungen der Freude verbunden, das System Nam mit Ruhe, Melancholie oder Traurigkeit. Jedes der modalen Systeme wies Differenzierungen auf und Thran Van Khê wies auch auf regionale Eigenarten hin.


Hinsichtlich der Volksmusik erhielten die Studierenden Informationen über Arbeitslieder (Ho), die nach Berufen und Regionen variieren, über festliche Gesänge oder die alternierenden Singweisen sowie über die Gesänge von Blinden, des Volkstheaters, der Kreistänze oder der magischen Zauberpraktiken, die besonders in Nordvietnam, wo die Folklore besonders vital ist, praktiziert werden. Hinsichtlich der Kunstmusik erinnerte Tran Van Khê an die mit Abschaffung der Monarchie zu Ende gegangene rituelle Hofmusik mit ihren 8 Gattungen. Beim Volk war auch eine Zeremonialmusik und eine Kammermusik zu verzeichnen, bei der er drei Versionen unterschied. Er hob die Musik des traditionellen Theaters hervor, die vor allem durch die Verwendung von Schlaginstrumenten in der Begleitung der Gesänge von Interessen sei. Nur kurz behandelt wurde in dem Text die sogenannte erneuerte Musik (am nhac cai cach), die eine Interaktion zwischen der vietnamesischen und der westlichen Musik erkennen ließ. Die Vietnamesen, die westlichen Musikunterricht erhielten, waren auf der Suche nach einer eigenen, originellen Sprache, die sie noch nicht erreicht hatten.


Die Besprechungen des Textes erfolgten vor dem Hintergrund der kulturtheoretischen Diskussionen, die in São Paulo zu dieser Zeit aus der Perspektive Brasiliens durchgeführt wurden. Allzusehr verriet der Text Auffassungen und Einstellungen, die bei diesen Diskussionen kritisiert wurden, sei es um Folklore-Konzepte, sei es um eine unzureichende oder kritische Haltung gegenüber Tendenzen, die aus der Auseinandersetzung mit westlicher Musik entstanden waren, ein Traditionalismus, der auch ein Anliegen nach Entwicklung einer eigenen und somit national geprägten Musik erkennen ließ.


Die koloniale Geschichte Vietnams und vor allem seine Bindungen der Zentren Indochinas zum Musikleben Frankreichs wurden kaum erwähnt. Gerade jedoch die Betrachtung der kolonialen Entwicklung könnte Perspektiven für die von der Nova Difusão geforderten Orientierung der Aufmerksamkeit auf globale Prozesse eröffnen und damit auch für das Erkennen von Parallelen zu denjenigen, die auch Brasilien betrafen. Die Bibliographie von Tran Van Khê ließ erkennen, dass er zwar bestrebt war, Ansichten früherer Autoren zu korrigieren, er selbst jedoch nicht ausreichend die Literatur zu Indochina aus dem 19. Jahrhundert kannte, die Wissen über das Land in Frankreich und in Ländern, die sich an Paris orientierten, vermittelte. Besprochen wurden u.a. Texten, die in französischen Illustrierten der Kolonialzeit erschienen sind und auch in Brasilien weite Verbreitung fanden.


Text basierend auf Niederschriften des von A.A.Bispo geleiteten Oberseminars

„Aktuelle Probleme anthropologischer Musikwissenschaft“ an der Universität Bonn 2003 und des Hauptseminars zur kulturwissenschaftlich orientierten Musikforschung an der Universität Köln 2005.