AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

50 jahre hochschullehre und forschung
antonio alexandre bispo

sinologie

& musikkulturstudien in brasilien


rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien

1970-1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo

fachbereiche
ästhetik, wahrnehmung, strukturaktionstheorie, fundamente der expression und kommunikation des menschen

MA Hiao-tsiun

1911- 1991

Die Bedeutung von Studien der Musik Chinas im 1972 eingeführten Fachbereich Ethnomusikologie auf Hochschulebene an der Fakultät des Musikinstituts São Paulo lag zunächst darin begründet, dass das Institut inmitten des chinesischen Viertels der Metropole – Liberdade – lag und in enger Beziehung zu Gruppen und Institutionen des Kulturlebens der Chinesen und deren Nachkommen in der Immigration stand.


Musik- und Kunsterzieher, die an den Grundschulen und Gymnasien des Viertels tätig waren und sich an der Fakultät fortbildeten, mussten in ihrem Schulalltag Schüler chinesischer Abstammung unterrichten, die Lieder, Spiele, Traditionen, Erzählungen und Verhaltensweisen aus ihrem familiären Kontext mit sich brachten. Sie sollten bei den Studien, die zur Lizenziatur in Musik- bzw. Kunsterziehung führten, Voraussetzungen für einen wertschätzenden Umgang mit den kulturellen Eigenarten der durch Abstammung und soziale Umwelt geprägten Schüler mitbringen und sie bei ihrem Umgang mit Mitschülern anderer ethnischen Zugehörigkeit und somit bei ihrer Integration in die kosmpolitische Gesellschaft São Paulos begleiten. Dafür mussten sie Lieder, Spiele, Tänze und mündliche Überlierungen sammeln, auswerten und in die Unterrichtspraxis einbeziehen. Die Aus- bzw. Fortbildung an der Hochschule sollte für diese Forschungsaufgaben und pädagogische Anwendung vorbereiten, sie sollte gegenwartsbezogen und auf den Alltag gerichtet sein.  


Einige der Studierenden und ihrer Schüler gehörten der Gemeinde chinesischer Katholiken an, was die Beziehungen zu portugiesischen Kreisen der Immigration, ihrer Netzwerken und Institutionen erleichterte. Damit rückte die Präsenz der Portugiesen in Macau und in anderen Städten der chinesischen Sphäre in den Vordergrund des Interesses. Die Beschäftigung mit dem Kultur- und Musikleben von Macau war nicht neu in den Kreisen portugiesischer Migranten und deren Nachkommen in São Paulo.


Wenn seit dem Ende des 2. Weltkrieges die Beziehungen zu Macau um die Persönlichkeit und das Wirken des für den Rundfunk und das Konzertleben im Fernen Osten bedeutenden Musikgelehrten Francisco de Carvalho e Rêgo und der von ihm gegründeten Akademie kreisten, so wurde im Verlaufe der 1960er Jahren die Beschäftigung mit Macau in der Immigration zunehmend von den Problemen beherrscht, die dem Vorgehen Indiens in Goa folgten. Damit traten Fragen der Kolonialgeschichte und der De-Kolonialisierungsbestrebugen, der Einwanderung und Migrationen in den Vordergrund, was nicht nur die Präsenz der Portugiesen im Osten, sondern auch der Chinesen in anderen Regionen der Welt betraf. In diesem Sinne sollten die Studien aus zwei Perspektiven geführt werden. Die Parallelen und Beziehungen zwischen der chinesisch-brasilianischen Gemeinde und den China-Vierteln in anderen Ländern der Welt – insbesondere auch in den USA und England – sollten Ziel der Bemühungen sein, um die Entwicklungen in São Paulo unter einer übergeordneten, internationalen Perspektive zu betrachten.


Auf der anderer Seite sollten die Beziehungen zwischen China und Brasilien in der Kolonialgeschichte untersucht werden. Allzu vernachlässigt erschienen sie in der brasilianischen Geschichtsschreibung und Kulturforschung. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit dieser Studien wurde bei einer von der Bewegung Nova Difusão veranstalteten Forschungsreise nach Minas Gerais 1970 geschärft, zu deren Zielen unter anderem auch die Untersuchung der Chinoiserien aus dem 18. Jahrhundert in Orgelprospekten und Altären in Kirchen wie von Sabará, Mariana und Catas Altas de Minas zählte.



Das Interesse für China in den Musikstudien entsprach vor allem aber der Aufmerksamkeit, die China in der Geschichtswissenschaft in universitären Kreisen São Paulos in den 1960er Jahren erhielt und die vor allem auf die Bedeutung Chinas für die Geschichte der Wissenschaft gerichtet war. 1966 wurde China Gegenstand eines ganzjährigen Kurses für Wissenschaftsgeschichte im Colégio Bandeirantes.


Die Auseinandersetzung mit der Wissenschaft und den Welt- und Menschenanschauungen Chinas konnte aber nicht auf das Studium der Musik verzichten. Musik gehörte in China zu einem umfassenden Wissensystem ältesten Ursprungs, das untrennbar mit der Kosmologie verbunden war. Eine aufmerksame Berücksichtigung musiktheoretischer Aspekte der chinesischen Musikkultur war somit bei den Fakultätsstudien unabdingbar.


Die Durchführung der Studien hatte mit den Schwierigkeiten zu kämpfen, die sprachbedingt den Zugang zu Publikationen behinderten. Die Befassung mit der Musik Chinas im Westen blickte auf eine lange Geschichte zurück. Immer wieder wurde auch in Brasilien in Texten und Kursen zur Musikgeschichte an das Werk von R. P. Amiot aus dem 18. Jahrhundert erinnert, das in Paris 1779 erschienen ist (De la Musique des chinois tant anciens que modernes. Mémoires concernat les Chinois VI). Auch an das mehrbändige Werk Edouard Chavannes (Les mémoires historiques de Se-ma Ts’ien) aus dem Ende des 19. Jahrhunderts wurde gedacht (Paris 1895-1905). Da für die brasilianischen Intellektuellen eher die französische Literatur zugänglich war, wurden das Buch La musique chinoise von Louis Laloy (Paris 1912) sowie und vor allem der Beitrag von Maurice Courant in der Encyclopédie de la musique von Lavignac (Essai historique sur la musique classique des Chinois) zu wichtigsten Informationsquellen.


Bei den Arbeiten des Zentrums musikologischer Forschungen Nova Difusão wurde im Verlauf der 1960er Jahre zunehmend erkennbar, dass eine Aktualisierung des Wissens über die Musikforschung Chinas notwendig war. Durch Martin Braunwieser (1901-1991), der die wissenschaftliche Leitung des Musikinstituts bis 1971 innehatte, konnten die deutschsprachigen Arbeit eines Hans Pischner (Musik in China, Berlin 1955) und vor allem die in Kassel 1956 erschienene Chinesische Musik von Kurt Reinhard studiert und besprochen werden.

Als Grundtext für die Studierenden diente der Beitrag zur chinesischen Musik von Hiao-tsiun Ma in der Enciclopédie de la Pléiade, da er in portugiesischer Übersetzung vorlag. Dadurch aber setzte sich die Tradition der Wissensgewinnung über China auf dem Umweg über Frankreich fort. Entsprechend der Orientierung der Nova Difusão, Kulturstudien in enger Beziehung zum Studium der Forschung selbst zu betreiben, wurde dem Verfasser des Textes  besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Ma Hiao-tsiun, der in Ningpo in China geboren und an der Nationaluniversität in Nanking studiert hatte, war bereits 1936 nach Frankreich gezogen. Er studierte Musikwissenschaft an der Sorbonne und ließ – wie auch andere Autoren der Enzyklopädie – diese wissenschaftliche Ausbildung in seinem Text erkennen. Seine Integration in die europäische Musikkultur verstärkte sich durch die Ausbildung in Komposition, die er im Conservatoire von Paris und an der École César Frank – und somit in der Tradition der Schola Cantorum – erhielt. Seit 1961 lebte er in New York.


Auf der Grundlage seines Textes widmeten sich die Studierenden vor allem Fragen der Musiktheorie, die in Zusammenarbeit mit dem Fach „Estruturação“ (Strukturationstheorie) des Fachbereiches Ästhetik besprochen wurden. Ma behandelte Aspekte der Stimmung und der Notation chinesischer Musik und allem voran die Musikinstrumente. Kenntnisse über die Musikinstrumente waren für die pädagogischen Ziele der Ausbildung von Musiklehrern chinesischer Schüler in São Paulo von besonderer Bedeutung, da sie auch vielfach in der Immigration anzutreffen waren. Ma wies in seiner Studie darauf hin, dass diese Musikinstrumente, die noch vielfach in Gebrauch waren, nicht nur von historischem Interesse sind, sondern auch deshalb wichtig, weil sie der chinesischen Musik einen „nationalen Charakter“ verliehen. Dadurch wurde auch bei den Lehrern und angehenden Musikerziehern das Bewusstsein geweckt, dass die in São Paulo verwendeten chinesischen Musikinstrumente auch zur Aufrechterhaltung der emotionalen Bindungen an China im Ausland wesentlich beitrugen. Ein anderer wichtiger Hinweis von Ma betraf die Verbindung von Musik und Dichtkunst in China, da er eine neue Perspektive auf die Musikalität der meist durch mündliche Überlieferung tradierten Dichtungen in der Immigration eröffnete. Eine besondere Aufmerksamkeit galt seinen Ausführungen über das traditionelle chinesische Theater, die Differenzierung der Schulen des Nordens und des Südens sowie ihre Modi in den jeweiligen zeitlichen und räumlichen Kontextualisierungen. Die King-tiao erlangte vor allem durch Dokumentarfilme in São Paulo die Faszination eines breiteren Publikums und regte die Debatte über die Kulturdiffusion an.


Angesichts der europäischen Ausbildung und der Integration in das internationale Musikleben des Westens als Violinisten und Komponisten erlangten die Ausführungen von Ma über die ausländischen Einflüsse und die neue Musik Chinas besonderes Interesse. Er erwähnte die zunehmende Eindringung europäischer Musikinstrumente im Musikleben größerer Städte Chinas, die Bildung eines Orchesters in Shanghai und seine Entwicklung durch Mario Paci (1878-1946) zu Beginn des 20. Jahrhunderts, was zur Diffusion europäischer Werke und zur westlichen Musikausbildung von Musikern und Komponisten beitrug. Nach der Revolution von 1912 entstanden in vielen Orten Schulen mit Musikunterricht. 1927 – und somit zur Zeit der Etablierung des Musikinstituts São Paulo – wurde das Konservatorium von Shanghai gegründet. Die Verbreitung von Schallplatten und des Radios sowie die Filmmusik und Konzerte europäischer und in Europa ausgebildeter Musiker trugen zur Europäisierung der Musik Chinas bei.


Ma wies aber auch auf ein ästhetischen und kulturelles Dilemma hin, das sich eng mit dem Gebrauch von Instrumenten verbindet. Die Spieler, die sich den traditionellen Instrumenten widmeten, trugen mit ihrem Schaffen zur Aufrechterhaltung der Musiktraditionen bei, diejenigen, die westlich gebildet und orientiert waren, verwendeten Musikinstrumente europäischer Herkunft, auch wenn sie sich bemühten, eine „nationale“ Musik zu schaffen. Ma ließ erkennen, dass er sich unter letztere einordnet, was die Möglichkeit bot, Parallelen zur Diskussion in Brasilien zwischen dem Universellen und dem Nationalen zu erkennen, die in den 1960er Jahren zwischen international und national orientierten Komponisten geführt wurde.


Diese Basislektüre schärfte das Bewusstsein dafür, dass in vielfacher Hinsicht eine eingehendere Betrachtung der Musik Chinas unter Berücksichtigung der Verflechtungen der europäischen und chinesischen Autoren mit weltweiten Kulturprozessen notwendig war. Vor allem die Darstellungen von Ma über die Entwicklungen des europäisch ausgerichteten Musiklebens Chinas, die stark durch seine persönlichen Erfahrungen und Einstellungen gefärbt waren, verrieten die Notwendigkeit, eingehendere Erhebungen und Studien von Quellen durchzuführen.


Die fast auschließliche Orientierung nach der frankphonen Literatur über China musste durch eine Diversifizierung der Perspektiven überwunden werden. Dafür ist die portugiesische Sichtweise von primordialer Relevanz, da die Präsenz Portugals in Macau und anderen Orten Chinas Prozesse seit Jahrhunderten entfachte und mitgestaltete. Diese Einsichten, die bei den Debatten in der Ethnomusikologie São Paulos gewonnen wurden, gaben die Richtung der Bemühungen vor, die in den folgenden Jahren von Deutschland aus die Auseinandersetzungen mit der chinesischen Musikkultur prägen sollten. Ein Höhepunkt erlangte diese Entwicklung in den Arbeiten des ISMPS 1996 zum Anlass der Wiedergabe von Hongkong und Macau an China und dem anschließenden internationalen Symposium, das in Portugal stattfand.





Text basierend auf Niederschriften des von A.A.Bispo geleiteten Oberseminars

„Aktuelle Probleme anthropologischer Musikwissenschaft“ an der Universität Bonn 2003 und des Hauptseminars zur kulturwissenschaftlich orientierten Musikforschung an der Universität Köln 2005.