AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

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& völkisches


rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien

1970-1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo

fachbereiche
ästhetik, wahrnehmung, strukturaktionstheorie, fundamente der expression und kommunikation des menschen


Fritz Bose
1906-1975

Die Berücksichtigung von Fritz Bose konnte bei einer Auseinandersetzung mit den theoretischen Ansätzen in der Volkskunde, Volksliedforschung, Vergleichenden Musikwissenschaft und Musikethnologie in São Paulo der 1960er und 1970er Jahren nicht ausbleiben. Er war bekannt sowohl in Kreisen der Volkskundler als auch derjenigen, die sich mit der Musikkultur außereuropäischer Völker befassten. Seit er 1966 die Leitung der Abteilung für Volkskunde am Staatlichen Institut für Musikforschung in Westberlin übernahm, wo er seit 1953 auch der Historischen Abteilung vorstand, wurde er in der Brasilianischen Gesellschaft für Volkskunde und des Museu de Artes e Técnicas Populares von São Paulo besonders beachtet.


Bose war auch in brasilianischen Kreisen São Paulos bekannt, die sich mit der Musik des Orients befassten.  Hier waren jedoch unterschiedliche Positionen zu verzeichnen. 1959 ist er Mitgründer der Deutschen Gesellschaft für Musik des Orients geworden, der er von 1967 bis 1972 als Präsident vorstand. In dieser Eigenschaft erschien er bei dem Modul Orientalische Studien bzw. Asien-Studien des Fachbereichs Musikethnologie am Musikinstitut São Paulos als Leitpersönlichkeit der entsprechenden Forschung in Europa. Diese Entwicklung der auf den Orient gerichteten Musikforschung in Berlin wurde allerdings mit distanziertem Misstrauen hinsichtlich Sichtweisen und Methoden von denjenigen gesehen, die sich der Tradition der Orientstudien verbunden fühlten, die auf die Bestrebungen in Mitteleuropa zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurückgingen und deren Hauptvertreter Martin Braunwieser (1901-1911) war.


Seit 1963 trat Bose als Herausgeber des Jahrbuchs für musikalische Volks- und Völkerkunde in Erscheinung. Seit 1965 wirkte er in der Leitung der Kommission für Lied-, Musik- und Tanzforschung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde. Er hielt musikethnologische Kurse an der Technischen Universität Berlin und war dort seit 1966 Honorarprofessor.


Der Ansatz für die Berücksichtigung der Fachliteratur in den einleitenden Vorlesungen im Fach Musikethnologie in São Paulo war dadurch geprägt, dass das Augenmerk primär auf die theoretischen Auffassungen, Sichtweisen und Verfahrensweise der Autoren selbst gerichtet war. Diese „Erforschung der Forschung“ entsprach den Bestrebungen zur Erneuerung der Kultur- und Musikstudien, die Mitte der 1960er Jahren in São Paulo einsetzten und 1968 zur Gründung des Zentrums für musikologische Forschungen der Bewegung Nova Difusão führten.


Bose, der bei Stettin 1906 geboren ist und dort zwischen 1913 und 1925 seine Schulbildung erhielt, studierte an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin u.a. bei Erich Moritz von Hornbostel (1877-1935). Er promovierte 1934 mit einer Arbeit über die Musik der Uitoto. Sein Studium und seine Karriere erfolgten in nationalsozialistischer Zeit und er konnte seine Tätigkeiten ausweiten nicht zuletzt als Mitglied des NS-Studentenbundes und der NSDAP. 1935 gründete er eine Musikabteilung am Institut für Lautforschung an der Friedrich-Wilhelms-Universität, die er bis Ende des Krieges 1945 leitete. Er führte das Projekt "Die Lieder der Völker" mit Schallplatten des Instituts für Lautforschung an der Universität Berlin durch (Berlin: M.Hesse 1936), die im Tonarchiv São Paulo rezepiert wurden.


Entsprechend der Anschauungen und Interessen der kulturpolitischen Ideologie der Zeit widmete er sich Fragen der Musik und von Musikinstrumenten germanischer Musik in ihren Ursprüngen. Er wirkte bei der Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe mit. 1936 unternahm er mit deren Leiter, dem finnischen Forscher Yrjö von Grönhagen (1911-2003) eine Reise nach Karelien, um Lieder finnischer Schamanen zu sammeln. Er bemühte sich 1937/38 germanische Luren nachzubilden. 1939 habilitierte er mit einer Schrift zu Klangstile als Rassenmerkmale.


Bose übernahm in Berlin die Lehrveranstaltungen von E. M. von Horbostel (1877-1935), als dieser in der Zeit der jüdischen Verfolgung auswandern musste. Für die Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe nahm er an einem Forschungsprojekt teil, das die Sammlung und Aufnahme von Volksliedern und Instrumentalmusik in Südtirol zum Ziel hatte.


Bei Ethnologen Brasiliens, die sich mit indigenen Kulturen befassten, war Bose vor allem auch durch die Erforschung der Uitoto in Kolumbien und Peru bekannt. Seine Arbeit wurde in Zusammenhang mit denen von Th. Koch-Grünberg (1872-1924) und in religionswissenschaftlicher Hinsicht mit denen von Konrad Theodor Preuss (1869-1938) studiert. Dieser lebte zwischen 1913 und 1919 bei den Uitoto und veröffentlichte das Buch Die geistige Kultur der Naturvölker 1914, ein Thema, das noch in den 1990er Jahre in aktualisierter Form wiederaufgegriffen werden musste.


Bei der Debatte in der Volkskunde zu ihrem Gegenstand, ihren Ansätzen und Methoden, die in São Paulo im Rahmen der Brasilianischen Gesellschaft für Volkskunde besonders intensiv geführt wurde, sowie bei der Diskussion um die Differenzierung zwischen Volkskunde und Ethnologie wurde Bose als ein Beispiel für einen Forscher, der sowohl historische als auch volkskundliche und völkerkundliche Studien betrieb, besonders beachtet.


Er schien diesbezüglich den interdisziplinären Anliegen zu entsprechen, die seit Mitte der 1960er Jahren für eine Neuorientierung der Studien in Kultur- und Musikstudien aktuell wurden. Seine Biographie rief jedoch nach einer aufmerksamen Auseinandersetzung mit Auffassungen und Ansätzen hinsichtlich ideologischer Grundsätze und Konnotationen von fachübergreifenden Vorgehensweisen, was zur Schärfung der theoretischen Überlegungen beitrug.


Bei der Besprechung der für die Musikethnologie relevanten Literatur an der Musikfakultät des Musikinstituts São Paulo wurden absichtlich Fritz Bose, Erich M. von Hornbostel und Bruno Nettl (1930-2020) in zusammenhängenden Sitzungen betrachtet. Dadurch sollten die konträren kulturpolitischen Kontexte, in die sie sich einfügten, ins Bewusstsein gebracht werden. Während Bose – der Student von Hornbostel – eng in den Nationalsozialismus involviert erschien, mussten nicht nur von Hornbostel, sondern auch die Eltern von Nettl wegen ihrer jüdischen Abstammung emigrieren.

Text basierend auf Niederschriften der Vorlesungsreihe „Musik in der Begegnung der Kulturen“ von Prof. Dr. A. A. Bispo, Universität Köln 1997-2000, der Seminare zum kulturwissenschaftlichen Ansatz in der Musikwissenschaft 2005 sowie zu Musikkulturforschung und Politik in Lateinamerika 20072008.