AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

50 jahre hochschullehre und forschung
antonio alexandre bispo

ethnologie
ästhetik und

psychologie

rethinking „primitive musik“


rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien

1970-1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo

fachbereiche
ästhetik, wahrnehmung, strukturaktionstheorie, fundamente der expression und kommunikation des menschen

Richard Wallaschek
1860-1917

Richard Wallaschek ist eine der Forscherpersönlichkeiten, deren Publikationen im Fachbereich Ethnomusikologie der Fakultät für Musik und Musikerziehung des Musikinstituts São Paulo 1972 berücksichtigt wurden. Diese Beschäftigung mit Wallaschek in der Ethnomusikologie erfolgte in engem Zusammenhang mit den Kursen zur Wahrnehmung – Perzeption – im Fachbereich Ästhetik, und mit dem Fach Lernpsychologie/Psychologie der Musikerziehung.


Die Bedeutung von Wallaschek für die Musikstudien in São Paulo wurde darin gesehen, dass dieser österreichische, in Brünn geborene Musikforscher und Psychologe, der seit 1897 an der Universität Wien lehrte, zu dem historischen Kontext gehörte, in den sich auch die Mentoren von Martin Braunwieser (1901-1991) einfügten, der bis 1972 künstlerisch-wissenschaftlicher Leiter des Musikinstituts São Paulos war.


Mit seiner Ästhetik der Tonkunst (Stuttgart 1886) sowie seinem Aufsatz „Ästhetik und Psychologie der Tonkunst“ wurde er von Bedeutung für die Ausbildung von Braunwieser am Mozarteum.


Eine Unterscheidung zwischen Wallaschek und ihm lag u.a. darin, das letzterer sich ausdrücklich für die Verwendung von Aufnahmegeräten in der Forschung einsetzte, wie er sie auch als technischer Experte für Tonaufnahmen bei der Mission volkskundlicher Studien im Nordosten Brasiliens angewendet hatte.


Walleschek, der Dozent für Ästhetik am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde Wien zur Jahrhundertwende war, war nicht nur im Rahmen der Ästhetik in Brasilien präsent. Seine Studien wirkten sich vor allem in seinen Auffassungen über die Rede aus – er war Dozent und Leiter des Akademischen Instituts für Redeübungen – und beeinflussten somit den Unterricht in Deklamation und Gesang im Konservatorium und an der Musikhochschule.


Diese Bedeutung von Walleschek für Deklamation und Gesang erklärt auch sein Ansehen bei Tatjana Braunwieser (Kipmann), die sich als Stimmbildnerin und Gesangslehrerin in São Paulo hervortat. Damit begründen sich auch die Unterschiede von Auffassungen zwischen dieser in Brasilien weiterlebenden Strömung des Denkens aus der Jahrhundertwende Mitteleuropas und denen Wallascheks. Tatjana war eng befreundet mit Marie Sivers (Steiner) (1867-1948), die sich dem Studium des Wortes und Fragen des Ursprungs des Wortes widmete, was von Bedeutung für die Anthroposophie wurde.


Bei Forschungen, die Wallaschek zwischen 1890 und 1895 im British Museum in London durchführte, entwickelte er seine Lehre zur Wahrnehmung. In ihr unterschied er Tonvorstellung von Musikvorstellung in mentalen Repräsentationen. Er entwickelte auch seine Auffassungen zur Musikproduktion ausgehend von der Ansicht, dass Musik Emotion ausdrückt.


Wallaschek wurde zu einem naturwissenschaftlich orientierten Vertreter einer psychologisch geleiteten Ästhetik, die sich mit Hörprozessen und Fragen ästhetischer Urteilsbildung beschäftigt. Seine Positionen, die die kognitive Leistung bei indivuellen Lernprozessen im Hörvorgang betonen, unterschieden sich von denen von Hermann v. Helmholtz (1821-1894).


Eine besondere Berücksichtigung in der Besprechung von Wallaschek in den Fachbereichen Ethnomusikologie und Ästhetik in São Paulo fand die Diskussion über Fragen zu den Ursprüngen der Musik sowie über den Begriff „primitiv“, die in seinem Werk Primitive Music: An Inquiry into the Origin and Development of Music, Songs, Instruments, Dances, and Pantomimes of Savage Races (London 1893) zum Vorschein kommen.


Der Debatte über den Begriff „primitiv“, die für Brasilien mit seinen indigenen Völkern besonders brisant war, wurde ein eigenes Modul im Fach Musikethnologie einberaumt. Die Diskussion wurde nicht immer objektiv und nicht ohne Missverständnisse geführt. Sie hatte das Verdienst, die Aufmerksamkeit auf philosophische Fragen des Anfangs, des Prinzips zu richten, die im umfassenden Sinn zu verstehen sind. Sie erlangte Bedeutung in der kritischen Auseinandersetzung mit Vorstellungen des Darwinismus bzw. Sozialdarwinismus. Sie brachte auch die Bedeutung des Rhythmus für die Auseinandersetzung mit Fragen des Anfangs ins Bewusstsein.


Text basierend auf Niederschriften der Vorlesungsreihe „Musik in der Begegnung der Kulturen“ von Prof. Dr. A. A. Bispo, Universität Köln 1997-2000, sowie des Seminars „Ethik und Ästhetik in der Musik“ des Musikwissenschaftlichen Seminars der Universität Bonn 2003.