AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT 

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

50 jahre hochschullehre und forschung
antonio alexandre bispo

orientalistik
judaistik


rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien

1970-1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo

fachbereiche
ästhetik, wahrnehmung, strukturaktionstheorie, fundamente der expression und kommunikation des menschen

Robert Lachmann

1892-1939

Die Berücksichtung von Robert Lachmann im Rahmen der Literaturbesprechung im Fachbereich Ethnomusikologie der Musikfakultät São Paulos wurde dadurch erleichtert, dass sein Werk Musik des Orients (1929)  in einer auf Spanisch übersetzten Ausgabe vorlag und damit für die Studenten leicht zugänglich war.


Dieses Werk richtete die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der Erforschung des Orients in der Geschichte der Vergleichenden Musikwissenschaft in Brasilien, was auch der Ausrichtung des Interesses in der Denktradition von Martin Braunwieser (1901-1991) entsprach, die auf seine Jugendzeit in Österreich zurückging.


Dennoch waren die Strömungen der Denk- und Sichtweisen, in die sich Lachmann und Braunwieser einfügten, unterschiedlich. Das Interesse für die Musik in West-Ost-Beziehungen des Kreises um Braunwieser ist hinsichtlich des Orients eher auf die alte arabische Literatur, auf die türkische Musik, auf Indien und auf den Fernen Osten ausgerichtet, was den Interessen in geistes-wissenschaftlich und metaphysisch geprägten Kreisen entsprach. Bei Lachmann – der zwar Studien sowohl bei islamischen als auch jüdischen Bevölkerungsgruppen auf der Insel Djerba 1929 durchführte – trat eine stärkere Gewichtung der jüdischen Musik zutage. 


Als Braunwieser 1927 nach Brasilien kam, nahm Lachmann erst seine Tätigkeit an der Musikabteilung der Preußischen Staatsbibliothek auf. Erst zu dieser Zeit unternahm er Studien im Vorderen Orient. Auch er musste 1935 auswandern, jedoch aus völlig anderen Gründen als Braunwieser, nämlich wegen der anti-semitischen Tendenzen in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland.


An der Hebräischen Universität Jerusalem gründete Lachmann ein Zentrum und Archiv für Orientalische Musik. Auch hier lag die Gewichtung auf der jüdischen Musik, wenn auch Lachmann gleichsam in einer Synthese das Gemeinsame in der Musik des Orients hervorhob. In vergleichender Verfahrensweise erkannt er Parallelen in der melodischen Strukturierung zwischen dem, was patet in Java, raga in Indien oder maqam in der arabischen Welt ist. 

Die besondere Bedeutung einer Auseinandersetzung mit den Leitprinzipien des Denkens von Lachmann in der Musikethnologie an der Musikfakultät São Paulos lag 1972-1974 darin, dass die Kurse auch von jüdischen Studenten besucht wurden, die Untersuchungen über die Musik in jüdischen Bevölkerungskreisen der Stadt durchführten und sich dafür mit Forschern und Institutionen in Israel in Verbindung setzten. Hervorzuheben waren die Studien und die Einsätze von Marie-Claire Hermann, die bedeutende kulturwissenschaftliche Forschungsarbeiten über die jüdische Musikkultur in São Paulo und über die Rolle jüdischer Musiker zum Musikleben der Stadt in Vergangenheit und Gegenwart durchführte. Im Sinne der Bewegung Nova Difusão, der sie von Anbeginn an angehörte, war ihre Forschung auf Prozesse und auf Grenzüberschreitungen ausgerichtet. Die Berücksichtigung einer jüdischen Perspektive bei der Betrachtung der Musik des Orients war für die Musikforschung Brasiliens – und überhaupt für die von den Portugiesen geprägten Weltregionen – von besonderer Bedeutung. 


Die Vertreibung portugiesischer Juden zur Epoche der Entdeckung Brasiliens führte zur Bildung einflussreicher Gemeinden in den Niederlanden, im Nahen Osten, in Indien und in anderen Regionen der Welt, die zu Zentren des Geistes- und Kulturlebens wurden, und erlangte auch für Afrika und Brasilien Bedeutung. Die Auseinandersetzung mit der Musik des Orients in der Denktradition von Lachmann eröffnete neue Perspektiven für die Analyse von Kulturprozessen in Brasilien – u.a. zur Zeit der niederländischen Präsenz im Nordosten des Landes – sowie für die Betrachtung orientalischer Musik, insbesondere auch der jüdisch-portugiesischen Gemeinden Indiens und Brasiliens.


Die Überlegungen, die in der Musikethnologie São Paulos seit 1968 angestellt wurden, lieferten die Grundlagen für Studien, die später vom Institut für Studien der Musikkultur des portugiesischen Sprachraumes u.a. in Amsterdam, Curaçao, und Cochim durchgeführt werden sollten.

Text basierend auf Niederschriften des von A.A.Bispo geleiteten Oberseminars 

„Aktuelle Probleme anthropologischer Musikwissenschaft“ an der Universität Bonn 2003 und des Hauptseminars zur kulturwissenschaftlich orientierten Musikforschung an der Universität Köln 2005.