AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

50 jahre hochschullehre und forschung
antonio alexandre bispo

organologie

rethinking
systematik von sachs/hornbostel


rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien

1970-1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo

fachbereiche
ästhetik, wahrnehmung, strukturaktionstheorie, fundamente der expression und kommunikation des menschen

Curt Sachs
1881-1959


Von den Publikationen, die in den einleitenden Lehrstunden der 1972 eingeführten Musikethnologie an der Fakultät für Musik- und Musikerziehung des Musikinstitus São Paulo besprochen wurden, waren die Texte von Curt Sachs die für die Studenten am einfachsten zu erreichenden und zu studierenden. Einige waren in der Bibliothek der Musikfakultät, andere u.a. in der Stadtbibliothek oder in der Bibliothek des Tonarchivs São Paulo vorhanden.


Zu den bekanntesten Werken Sachs zählten diejenigen, die in Kursen für Musikgeschichte in Konservatorien verwendet wurden. Für die Diskussion um die Ethnomusikologie in Brasilien, die im allgemeinen als eine Erneuerung der Komparativen Musikologie angesehen wurde, war seine Vergleichende Musikwissenschaft von 1959 notwendigerweise eingehend zu berücksichtigen.


Die verbreitesten Studien von Curt Sachs betrafen in erster Linie die Organologie. Sein Real-Lexikon von 1913 fand in Brasilien seit jeher weite Verbreitung. Vor allem aber seine in der Zeitschrift für Ethnologie publizierte „Systematik der Musikinstrumente: Ein Versuch“ von 1914 bot die Grundlage für die mit seinem Namen und von dem von Erich von Hornbostel  (1877-1935) verbundene Klassifikation von Musikinstrumenten, wie sie in Kursen in den Konservatorien unterrichtet wurde. Damit wurde ein System für die Klassifikation von Musikinstrumenten verbreitet, das von einem Katalog ausging, nämlich dem Katalog des Musikinstrumentenmuseums von Brüssel, der 1880 von Victor-Charles Mahillon (1841-1924) herausgegeben worden war. Es fügte sich in die Geschichte der Bemühungen um praktische Aufbewahrung, Archivierung und Katalogisierung für Museen ein, die zur zweckmässigen Zuordnung von Instrumenten in Schubladen und Schränken eines Magazins dienten. Sie dokumentierte jedoch eine Ausweitung dieser ursprünglichen Zweckbestimmung, beeinflusste die Forschung und die Studien europäischen und außereuropäischen Instrumentariums, ihres Werdeganges und ihrer Funktionen, förderte damit überhaupt ein klassifikatorisches, katalogisierendes, kategorisierendes Schubladendenken, das unter verschiedenen Aspekten schwerwiegende Konsequenzen hatte.


Die Defizite der Systematik Sachs-Horbonstels und vergleichbarer, anderer Klassifikationen offenbarte sich nicht nur durch die Schwierigkeit, „hybride“ oder sonstige schwer einzuordnende Instrumente nach Material, Art der akustischen Hervorbringung oder Spieltechniken zu  klassifizieren. Sie erschwerte eingehende Analysen von Prozessen, die u.a. zu Ersetzungen von Instrumenten und zum perkussiven Gebrauch von Chordophonen führten, und erschwerte die Analyse von Sinn und Funktion, von beabsichtigten Wirkungen auf Zuhörer, Natur und geistige Welten. Sie führte auch zu einer fragwürdigen Auffassung von Wissenschaftlichkeit. Musikethnologen, vor allem diejenigen, die in Museen tätig waren, erlangten ein überhöhtes Selbstbewusstein, da sie eine wissenschaftlich anmutende Systematik beherrschten, entwickelten eine Anmaßung, besonders intelligent vorzugehen, obwohl diese positivistisch anmutende Klassifizierung trotz all ihres ausgeklügelten, aufgezweigten Aufbaus an sich diesen Anspruch nicht erheben kann.


Gerade die Systematik Sachs-Hornbostels musste Gegenstand kritischer Betrachtung von einer Musikforschung sein, die auf Prozesse achtete und kulturwissenschaftlich orientiert war. Sie widersprach grundsätzlich den Bestrebungen zur Erneuerung der Denk- und Sichtweisen durch die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Prozesse, die seit der Mitte des 1960er Jahrens entstanden waren und zur Gründung der Nova Difusão mit dem ersten Zentrum für musikwissenschaftliche Forschung kulturwissenschaftlicher Orientierung in São Paulo führte.

Die Klassifizierung nach den Kriterien der Systematik Sachs-Horbostel erwies sich bei Studien und Debatten im Museu de Artes e Técnicas Populares von São Paulo als nicht tauglich, die Musikinstrumente als Bedeutungsträger in Traditionen und die Kohärenz bei ihren Ersetzungen in Traditionen zu erklären. Sie wurde bei den Sitzungen des Museums, das bestrebt war, neue Wege in Auffassung, Forschung und Vorgehensweise der Volkskunde zu gehen, als Stütze eines mechanistischen und stereotypischen Denkens, als ein oberflächliches Produkt und Relikt von Denk- und Sichtweisen des 19. Jahrhunderts angesehen. Als eine künstliche Katalogisierung, die zwar für praktische Zwecke bei der Aufbewahrung und Auffindung von Instrumenten nützlich sein könnte, da sie die Aufbewahrung von Instrumenten in Kisten und Schränken ermöglichte, konnte sie den organologischen Vorstellungen nicht gerecht werden, wie durch die empirische Forschung in den verschiedenen Kontexten festzustellen war.


Die Debatte verband sich mit Überlegungen über die angemessene Darstellung in den Ausstellungsräumen, ob sie – wenn nicht nach systematischen Kriterien – nach geographischen Arealen, nach Kulturkontexten oder Themen zu erfolgen hätte. Wie könnten z.B. die Mechanismen bei der Ersetzung von Instrumenten in Wandlungsprozessen im Verlaufe der Missionierung dargestellt werden? Wie könnten visionäre Schauungen von Musikinstrumenten in ihren Verwandlungen bei mystisch geprägten Kultpraktiken oder bei  indigenen Kulturen museumspädagogisch dargestellt werden? Die schematische Systematik von Musikinstrumenten nach Sachs-Hornbostel und anderen, die nach ähnlichen Prinzipien vorgingen, musste hinsichtlich ihrer theoretischen Ansätze überdacht werden, da sie den Erfordernissen einer kulturwissenschaftlich orientierten Musikforschung, die sich nach Prozessen orientierte, Überwindung von Grenzen und Trennlinien in allen Aspekten und überhaupt die Kategorisierung des Gegenstandes der Betrachtung kritisierte, nicht genügte.


Als Direktor der Sammlung alter Musikinstrumente bei der Staatlichen akademischen Hochschule für Musik in Berlin-Charlottenburg ab 1920 wurde Curt Sachs auch in Brasilien als der Expert schlechthin für Musikinstrumentenkunde angesehen. 1928 wurde er Professor an der Universität Berlin, ab 1926 lehrte er auch Instrumentenkunde an der Staatlichen Akademie für Kirchen- und Schulmusik in Berlin.


In kulturwissenschaftlicher Hinsicht war der von Curt Sachs vertretene theoretische Ansatz des Diffusionismus in Brasilien besonders zu diskutieren, da er einige brasilianische Autoren in ihrem Denken prägte. Der Begriff Diffusionismus musste unbedingt von der Bezeichnung „Nova Difusão“ für die Bewegung zur Erneuerung von Kultur- und Musikstudien unterschieden werden. Diese Notwendigkeit der begrifflichen Unterscheidung prägte die Debatten im 1968 gegründeten Zentrum musikwissenschaftlicher Forschungen. Die diffusionistische Orientierung des Denkens von Curt Sachs kann anhand seines Buches Geist und Werden der Musikinstrumente von 1929 und The History of Musical Instruments von 1940 studiert werden. Sein Buch World History of the Dance vom 1938 wurde in Lateinamerika rezipiert und beeinflusste grundlegend einige Autoren. Seine Ansätze waren insofern aktuell, da er bemüht war, globale Zusammenhänge zu untersuchen. Dennoch waren seine theoretischen Leitprinzipien problematisch und wurden abgelehnt.


Auch seine Publikation The Rise of Music in the Ancient World von 1943 wurde nicht nur in Kursen der Musikgeschichte in Konservatorien studiert. Wenn sich auch das Werk auf die Musik in der Antike richtete, ging in ihm Sachs auf die Musik indigener Völker Südamerikas – und aus anderen Kontexten – ein, bevor er zur Betrachtung  der Hochkulturen des Orients und des alten Ägypten überging.


Diese Vorgehensweise, die vom einfachen zum komplexeren fortschreitete, ließ eine Denk- und Sichtweise erkennbar werden, die evolutionistisch geprägt war. Sie wurde auch nicht immer reflektiert in musikgeschichtlichen Darstellungen anderer – auch brasilianischer – Autoren übernommen.  In The Commonwealth of Art von 1946 vertrat Curt Sachs nochmals die Ansicht, dass alle Künste einer Kultur oder einer Epoche ähnliche Charakteristiken aufzeigen. Er stellte die Hypothese auf, dass es Konzepte gäbe, die für alle Kunstformen anwendbar sind. Es gäbe z.B. eine universelle Dualität, die erlaubt, von zwei Grundtypen von Musik zu sprechen, einen logogenischen, der aus der Sprache entsteht, und einen pathogenischen, der aus der Emotion geboren wird. Er geht er auch hier evolutionistisch von der Betrachtung von Völkern, die keine Schrift besitzen, aus.






SCHUBLADEN VON MUSIKINSTRUMENTEN = DENKEN IN SCHUBLADEN = ANTIQUIERTE ORGANOLOGIE UND MUSEOLOGIE

Text basierend auf Niederschriften der Vorlesungsreihe „Musik in der Begegnung der Kulturen“ von Prof. Dr. A. A. Bispo, Universität Köln 1997-2000, Seminare „Musik und Symbolik“ und „Musik und Religion“ an der Universität Bonn 2003, sowie dem Hauptseminar zum kulturwissenschaftlich Ansatz in der Musikwissenschaft, Köln 2005.