AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT 

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

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ein dokumentationsprojekt

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& tanz


rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien

1970-1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo

fachbereiche
ästhetik, wahrnehmung, strukturaktionstheorie, fundamente der expression und kommunikation des menschen

Rolf Gelewski 

1930-1988

Vom 30. Juli bis 4. August 1973 veranstaltet der Fachbereich Musikethnologie der Fakultät für Musik und Musikerziehung des Musikinstituts von São Paulo zusammen mit der Casa Sri Aurobindo von Salvador, Bahia, den Kurs „Estruturas sonoras“. Musikethnologie wird in der Fakultät in enger Zusammenarbeit mit dem Fachbereich „Estruturação“ (Strukturationstheorie) gelehrt, der musiktheoretische Disziplinen systematischer Natur umfasst. Diese interdisziplinäre Zusammenarbeit ergibt sich aus dem Leitgedanken, dass theoretische und empirische Musikstudien in Lehre und Forschung sich wechselseitig bedingen, dass Strukturlehre im Sinne systematischer Musikforschung in ihren Beziehungen zu Erkenntnisprozessen, zur Wahrnehmung und zu sozio-kulturellen Kontexten zu betrachten ist und dass in der Musikethnologie Analysen des dem Gegenstand der Betrachtung zugrundeliegenden Systems von Auffassungen mit seinen innewohnenden Mechanismen nicht fehlen dürfen. 


Die Analyse der Zeichensprache in ihrer Dynamik und ihren Beziehungen zu Bewegungen liefert die Grundlagen für den experimentellen Tanz. Dieser Ansatz entspricht der Tradition des Denkens der Vergleichenden Musikwissenschaft, wie sie in Brasilien über Jahrzehnte vertreten wird, und kommt der Debatte über eine Anthropologie der Musik entgegen, wie sie im Fachbereich Musikethnologie geführt wird. Nach dem Prinzip, dass für Forscher und Erzieher das Bewusstwerden der eigenen Kulturkonditionierung an erster Stelle steht, wird der Blick auf den inneren Menschen ausgerichtet. Ausgangpunkt ist somit die Arbeit an sich selbst auf der Suche nach Selbsterkenntnis und Charakterbildung des Forschers bzw. des Erziehers, nicht der Gegenstand der Betrachung oder der zu Erziehende. Die Strömung des Denkens, die in Lehre und Forschung in Brasilien vornehmlich mit dem Namen Martin Braunwieser (1901-1991) verknüpft ist, ist eng mit den Geistes-Wissenschaften verbunden, wie sie sich in Mitteleuropa zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt haben. Sie hängen mit Auffassungen vom Menschen zusammen, wie sie auch ausdrücklich in der Anthroposophie in Erscheinung treten. Die Betrachtung der Musik in dieser geistes-wissenschaftlichen Tradition war eng mit östlichen Philosophien verbunden. Vor allem indische Musiker spielten unmittelbar vor und nach dem I. Weltkrieg eine maßgebliche Rolle in Bestrebungen zur Erneuerung des Denkens, die vorrangig auf die Musik in Ost/West- bzw. West/Ost-Beziehungen fokussieren. 


Die erneute Begeisterung für östliche, vornehmlich indische Philosophie in der westlichen Welt in den 1960er Jahren, die auch Brasilien erfasst, bringt die Notwendigkeit ins Bewusstsein, diese Denktradition der Musikforschung aktualisierend zu verlebendigen. Die freie Entwicklung des Bewusstseins, die Beziehungen zwischen Existenz, Bewusstsein und Lebensfreude in einer ganzheitlichen Sichtweise, die einer einseitigen Verinnerlichung entgegentritt, soll gefördert werden. 


Bei der vom Centro de Pesquisas em Musicologia ND mitveranstalteten Studienreise nach Salvador 1971 wird u.a. Kenntnis genommen von den Initiativen im Bereich des zeitgenössischen Tanzes des Grupo de Dança Contemporânea da UFBA – Bundesuniversität von Bahia – sowie von Denkströmungen, die sich mit dem Namen von Sri Aurobindo (1872-1950) verbinden. In Zusammenarbeit mit anderen Institutionen und Hochschulen, wie in Belo Horizonte, veranstaltet Gelewski Kurse in verschiedenen Regionen Brasiliens. Seine Arbeit wird vor allem für die Entwicklung des Tanzes in Brasilien sowie für die Institutionalisierung der Tanzlehre und -forschung auf Universitätsebene maßgeblich werden. Als Schüler von Mary Wigman (1886-1973) spielt er eine wichtige Rolle in der Geschichte des Ausdruckstanzes in Brasilien und überhaupt für eine Kunst der Bewegung.


Der Kurs des Hauses Sri Aurobindo an der Fakultät wird von Rolf Gelewski und seinem Assistenten, dem Tänzer und Choreographen Paulo J. Baeta Pereira, durchgeführt. Er versteht sich als eine erste Stufe in einer Entwicklung, die fortgesetzt werden soll. Der Kurs besteht aus praktischen Arbeiten mit Klang und Bewegung elementarer klanglicher Wahrnehmung. Dabei werden Übungen zur Bewusstwerdung und Disziplin des Körpers durchgeführt. Gleichzeitig werden Vorlesungen zur Erziehung und zu Musikauffassungen abgehalten. Sie behandeln Grundthemen zur Technik der Körperarbeit, zu Formen, Rhythmik und Metrik sowie zu Raumstudien und Komposition, Improvisation, Choreographie und Philosophie des Tanzes. Die Studien sind von grundlegender Bedeutung für die Musikerzieher bei ihrer Tätigkeiten an Schulen sowie für die Vorbereitungen zur Einführung des Faches Kunsterziehung an der Fakultät. Die Kunsterziehung in diesem umfassenden Sinne soll den Musikunterricht in Schulen ersetzten. Dafür müssen die Musiklehrer fortgebildet werden.


Sie werden vor allem von Rolf Gelewski geführt, der Nachfolger von Yanka Rudzka (1916-2008) an der Escola de Dança da  Bahia und Vorsitzender der Casa Sri Aurobindo wird. Vom Goethe-Institut unterstützt – das in Indien mit dem Namen von Hans Joachim Koellreutter (1915-2005) verbunden ist – hat er kurz zuvor Reisen durch Indien und Südostasien realisiert. Bei diesen Reisen trifft er 1968 im Sri Aurobindo Ashram in Südindien die französische Künstlerin und Yogin Mirra Alfassa (1878-1973), die sein Streben nach spontanem Tanz prägt. 




Dem Kurs gehen Vorbereitungssitzungen im Fach Musikethnologie voraus. Dabei wird an die Geschichte des modernen Tanzes und der Bewegungskunst in Brasilien erinnert, die bereits in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einsetzte. Betrachtet werden Leben und Auffassungen von Mary Wigman. Diskutiert werden religionswissenschaftliche Texte, allen voran von Mircea Eliade (1907-1986), mit denen sich aus der Perspektiv der Religionsstudien kritisch mit der Musikethnologie Brasiliens auseinandergesetzt wird. Die Tradition esoterischer Studien, neuer Gnosis und des Symbolismus in Brasilien wird ausgehend von der Rezeption von René Guénon (1886-1951) besprochen. Die Rolle von Paul Brunton (1898-1981) in der Theosophie und im Spiritismus Brasiliens sowie in der Diffusion östlicher Weisheitslehren in ihren Beziehungen zur Musik steht im Mittelpunkt der Überlegungen.






Text basierend auf Niederschriften der Vorlesungsreihe „Musik in der Begegnung der Kulturen“ von Prof. Dr. A. A. Bispo, Universität Köln 1997-2000, des Oberseminars „Weltmusik“ an der Universität Bonn sowie des Hauptseminars „Musik in der Gnosis“, Köln 2005.