AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

50 jahre hochschullehre und forschung
antonio alexandre bispo

europäistik
mediterrane antike


rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien

1970-1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo

fachbereiche
ästhetik, wahrnehmung, strukturaktionstheorie, fundamente der expression und kommunikation des menschen

Ottavio Tiby

1911-1991

Bei der Einführung der Ethnomusikologie in den Hochschulstudien in São Paulo wurde darauf Wert gelegt, nicht nur außereuropäische, aus der Sicht Europas „exotische“ Kulturkontexte zu beachten, sondern auch europäische Studien miteinzubeziehen. Dieses Anliegen schien notwendig, um eine Denk- und Sichtweise zu fördern, die die Studien und Forschungen aus eigener, kontextgerechter, reflektierter Perspektive ermöglichen können. Brasilien wurde in der internationalen Forschung praktisch nur unter ethnologischem Aspekt berücksichtigt. Die Rezeption der internationalen Literatur und der ihn ihr vermittelten Ansätze und Deutungen beeinflussten die Kultur- und Musikstudien. Die Tendenzen des Denkens und der Forschungen Europas wurden mittelbar oder unmittelbar assimiliert und selbst die kritischen Intellektuellen der Moderne, die sich wie u.a. Mário de Andrade (1893-1945) gegen diese Abhängigkeit und Fremdbestimmung in Denken, Kunst und Musik seit Jahrzehnten aussprachen, waren selbst von Tendenzen Europas – mochten sie auch fortschrittlich gewesen sein – geprägt. Es schien demnach erforderlich, bei der Einführung der Ethnomusikologie in Brasilien diese Positionierung zu ändern und in einem Modul zur Europäistik unter dem Aspekt einer prozessorientierten Musikkulturforschung Europa selbst zu betrachten.


Die Ausbreitung der Ethnomusicology aus den Vereinigten Staaten in Lateinamerika in den 1960er Jahren wies auf eine Amerikanisierung von Denk- und Sichtweisen, Ansätzen und Praktiken hin, die die Gefahr in sich bargen, ebenfalls kritiklos als Inbegriff der Entwicklung der Wissenschaft schlechthin übernommen zu werden. Der seit langem beklagte Eurozentrismus erschien damit durch einen US-Zentrismus ersetzt zu werden, der vielfach – da die Ethnomusicology von aus Europa stammenden Forscher praktiziert wurde – zu einer Europäisierung zweiten Grades führte.


Die Autoren, Institutionen und Publikationen aus den Vereinigten Staaten, die nun in den Fokus der Aufmerksamkeit traten, veränderten vielfach als Vertreter musikwissenschaftlicher Avantgarde das Referentialsystem der Lehre und Forschung in Brasilien.


Diese Amerikanisierung, die in der Musikethnologie als die neue Tendenz schlechthin des Musikdenkens zu unreflektierter Assimilierung und Nachahmung zu führen drohte, wurde von Kreisen der jungen Generation, die sich in den 1960er Jahren unter dem Regime in Brasilien angesichts der internationalen Entwicklungen politisch kritisch gegenüber den USA eingestellt waren, als problematisch angesehen.


Diese offensichtliche Tendenz zur Umorientierung von Denk- und Sichtweisen trug zur Verschärfung des Bewusstseins hinsichtlich der verschiedenen Strömungen bei, die die Kultur des Wissens und der Forschung in Brasilien prägten.


São Paulo war über Jahrzehnte durch die Intensität der italienischen Immigration im Kultur- und Musikleben sowie im Musikunterricht von Traditionen und Tendenzen Italiens geprägt. Sie bestimmten das Konzertrepertoire, die Oper und die  Ausbildung in den Konservatorien. São Paulo – das als Mailand Südamerikas bezeichnet wurde – nahm durch diese Gewichtung seiner Orientierung eine Sonderstellung in einem Brasilien ein, dessen führende Literaten, Künstler, Musiker und dessen Intelektuellen-Elite sich seit dem 19. Jahrhundert nach Frankreich richtete. Diese Orientierung nach Paris verstärkte sich nach dem I. Weltkrieg. In der Geisteswissenschaften – und vor allem auch in der Ethnologie – wurde sie durch die Berufung französischer Denker bei der Errichtung der Fakultät für Philosophie an der Universität São Paulo in den 1930er Jahren verstärkt.


Die europäischen Musikstudien im Fachbereich Ethnomusikologie sollten im Bewusstsein dieser verschiedenen Einschreibungen der Forscher geführt werden. In der Volkskunde und in der Musikgeschichte der Konservatorien und der in ihnen Ausgebildeten war die italienische Perspektive vorherrschend, während in der Ethnologie und in den Sozialwissenschaften die Orientierung nach französischen und deutschen Publikationen überwog. Das Erwachen des Bewusstseins für die Existenz von Kreisen unterschiedlicher Regionen Italiens in São Paulo, die in verschiedenen Epochen und aus unterschiedlichen Gründen eingewandert waren und deren Unterschiede sich in den vielen Vereinen, Musik- und Tanzgruppen offenbarten, prägte die Auseinandersetzung mit Europa unter ethnomusikologischer Sicht. Die Beachtung der Volkstraditionen der italienischen Gruppen erfolgte im Lichte der Auseinandersetzung mit den immigrierten Gruppen in São Paulo. Während die Beschäftigung mit der Lusitanistik in Kultur und Musik von den Azorianern und Madeirensern oder von Migranten aus abgelegenen Regionen Portugals wie Beira ausging, wurde der Blick hinsichtlich der italischen Halbinsel auf die durch ihre Volkstraditionen besonders hervortretenden regionalen Gruppen gerichtet, allen voran Siziliens.


Die vorrangige Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Sizilien bestimmte eine Entwicklung der Studien und der Kooperationen, die sich in den folgenden Jahrzehnten fortsetzte. Sie richtete den Blick auf den gesamten Kontext des Mittelmeeres, auf Süditalien, Malta, Nordafrika und andere mediterrane Regionen. Sie bestimmte eine Annäherung an eine prozessorientierte Europäistik vom Mittelmeer aus und brachte damit Kolonisierungen und Interaktionen in der Antike ins Blickfeld. Studien nichtg nur der Volkstraditionen, sondern auch der Musikgeschichte, der antike Musikkulturforschung und der Musikarchäologie wurden durch diese mediterrane Positionierung aus der Sicht von Kolonisationsprozessen geprägt.


In dem Musikkonservatorium der Italiener São Paulos – das vornehmlich norditalienisch, mailändisch-venezianisch geprägte Conservatório Carlos Gomes, ehemals Società Benedetto Marcelo – galt über Jahrzehnte der italienischen Musikforschung Ottavio Tiby als führende Gestalt. Nach seinen Studien wurde die Antike in der Musikgeschichte unterrichtet, was sich erst durch die Erscheinung in portugiesischer Sprache der Weltmusikgeschichte von Kurt Pahlen (1907-2003) aus praktischen Gründen änderte.


Einer der Grundtexte zu Europa-Studien in der Ethnomusikologie an der Fakultät des Musikinstituts São Paulo war der Beitrag zur Musik in der klassischen Antike von Ottavio Tiby für die Enzyklopädie de la Pléiade, der in Übersetzung des portugiesischen Komponisten Emmanuel Nunes (1941-2012) in portugiesischer Sprache zur Verfügung stand. Die Studien erfolgten in enger Zusammenarbeit nicht nur mit dem Fachbereich Ästhetik – dem systematische Fächer und die Geschichte der Musiktheorie unterstanden –, sondern auch mit der historischen Musikwissenschaft. Von diesem Beitrag aus entwickelte sich die Auseinandersetzung mit der deutschsprachigen Fachliteratur.


Die europäischen Studien unterschieden sich durch diese Einbettung in die Ethnomusikologie grundsätzlich von denen eurozentrischer Musikgeschichtsbetrachung, allen voran der beschränkten und reaktionären Sichtweisen eines Otto Maria-Carpeaux in dessen weit verbreiteten Musikgeschichte, die im Zentrum kritischer Diskussionen stand.

In seinem Beitrag zur Pléiade-Enzyklopädie behandelte Tiby eingehend satztechnische Aspekte, was ihn für die systematischen Studien besonders bedeutsam machte. Im Vordergrund stand bei den Lehrveranstaltungen im Fach „Estruturação“ (Strukturationstheorie) Fragen zum Tonsystem, zur Modalität und vor allem zum Ethos in dessen Beziehungen zur Ästhetik. Behandelt wurden die Rhythmik und die Metrik, die Musikinstrumente, die Interaktionen der Kunstformen, vor allem die Bedeutung der Dichtung und des Tanzes. Ausgehend von Tiby wurden die historischen Prozesse diskutiert, die von der Frühgeschichte, von den mythischen Sängern und den Überlieferungen bei Homer ausgingen, sowie die Entwicklungen, die für die Studien der Musik in der Tragödie und in der Komödie Voraussetzung waren.


Auf Grund der Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Kolonialprozessen in der Ethnomusikologie São Paulos standen die Ausführungen Tibys zur Musik in den griechischen Kolonien des Westens im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. In diesem Text ging Tiby eingehend auf Pythagoras, auf die seiner Meinung nach bis heute nachwirkende Differenz zu Aristoxenos, auf die Musik als Wissenschaft und auf die Bedeutung der Musik in Sizilien ein.  


Besonderes Interesse weckten im Lichte der Ansätze der Bewegung Nova Difusão seine Ausführungen zu Diffusionsprozesse in der helenistischen Sphäre vor allem nach Alexander d. Gr. und der Entstehung neuer Kulturzentren.


Die Residuen helenischer und helenistischer Musik in den Fragmenten – 1. Pythika von Piundaro, I. Stsimon der Orestia von Eurípedes, delphyscher Hymnen, Hymnen von Mesomedes, Epitaph von Seikilos, instrumentale Fragmente und der christliche Hymnus von Oxarhynchus – wurden anhand von in Arbeitsblättern der Fakultät nachgedruckten Notationen aus Studien anderer Autoren analysiert und gar versucht, sie klanglich zu rekonstruieren. An die Tradition der klanglichen Rekonstruktion und des Schaffens von Kompositionen nach den antiken Modi wurde dabei erinnert. Martin Braunwieser, der bis 1972 die Leitung des Musikinstituts innehatte, hatte sie in seiner Jugend in anthroposophischen Kreisen aus der Nähe kennengelernt. Sie wurden in der ersten Musiktagung im Goetheanum in Dornach 1926 unter Führung von Kathleen Schlesinger (1862-1953) und Elsie Hamilton (1880-1965) erprobt.


Die Studien und Auseinandersetzungen mit der Musik der Antike und der Musikarchäologie aus einer mediterranen Betrachtung von Musikkulturprozessen wurden von Europa aus ab 1975 weitergeführt. Sie gaben Anlass zu Beobachtungen und Studien in verschiedenen Regionen des Mittelmeerraumes, u.a. in Städten Siziliens. Sie knüpften an bereits bestehende Kooperationen zwischen Volkskundlern und Musikforschern verschiedener europäischer Länder an, an denen auch der brasilianische Musikforscher Luis Heitor Correa de Azevedo (1905-1992) teilnahm. Die kulturwissenschaftlichen Ansätze, die in São Paulo seit 1966 entwickelt wurden, bestimmten eine erhöhte Aufmerksamkeit für das Zeichenhafte und eine besondere Gewichtung semiotischer Analysen bei einer prozessorientierten Musikkulturforschung. Der Stand und die Entwicklung der Forschung wurden bei Tagungen besprochen, u.a. bei Besprechungen am Euro-Mediterranen Institut auf Sardinien.

Text basierend auf Niederschriften des von A.A.Bispo geleiteten Oberseminars

„Aktuelle Probleme anthropologischer Musikwissenschaft“ an der Universität Bonn 2003 und des Hauptseminars zur kulturwissenschaftlich orientierten Musikforschung an der Universität Köln 2005.