AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

50 jahre hochschullehre und forschung
antonio alexandre bispo

musik-

archäologie


rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien

1970-1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo

fachbereiche
ästhetik, wahrnehmung, strukturaktionstheorie, fundamente der expression und kommunikation des menschen

rethinking

Constantin Brăiloiu   1893-1958
Melville Herkowitz   1895-1963

Bei den Besprechungen zu Literatur und Quellen für Studien der Musikethnologie in Brasilien im Fachbereich Musikethnologie des Musikinstituts São Paulo 1972 wurde die Bedeutung des rumänischen Musikforschers Constantin Brăiloiu hervorgehoben. Die Beziehungen von Volkskundlern und Musikforschern Brasiliens zu Brăiloiu und seinen Arbeiten waren nicht neu. Sein Folklore musical, das in der Encyclopédie de la musique Fasquelle, Paris 1959, erschienen war, wurde von Volkskundlern studiert. Vor allem wegen der von ihm herausgegebenen Tonaufnahmen war sein Name in der Volkskunde und in der Vergleichenden Musikwissenschaft bekannt. Er organisierte seit 1944 in Genf Les Archives internationales de musique populaire (AIMP) am ethnographischen Museum von Genf – Musée d'ethnographie de Genève. Seine Collection universelle de musique populaire enregistrée, die zwischen 1951 und 1958 erschien, war mit ihren 40 Schallplatten in privaten und einigen öffentlichen Archiven vorhanden. Sie wurde vom Tonarchiv der Stadt São Paulo durch dessen Leiterin Oneyda Alvarenga (1911-1984) für den Fachbereich Ethnomusikologie an der Musikfakultät des IMSP zur Verfügung gestellt.


Von den von ihm herausgegebenen Tonaufnahmen wurden diejenigen besonders aufmerksam berücksichtigt, die von Melville Herskowitz (1895-1963) in Salvador/Bahia gemacht worden waren. Es handelte sich dabei u.a um Aufnahmen eines Ketu-Kultes mit einem Chor von Initiierten, die den Yoruba der Ketu-Gruppe zugeschrieben wurden und die mit den Stichworten Kultgesang, Responsorialer Gesang, Besessenheitsritus, Anrufung von Gottheiten, Polyrhythmie, Trommelpaar (rum, rumpi) und Eisenglocke gekennzeichnet waren. Anlass zu Besprechungen gab vor allem die Aufnahme von einem sogenannten „Blätter-Zyklus“. Die Aufnahmen stammten aus den Archives of American Folk Song/Alan Lomax aus The Library of Congress, Division of Music, Recordings Laboratory (Melville Jen et Frances S. Herskovits 1947, gesammelt 1941-42).


Wie bei den anderen besprochenen Musikforschen in den Lehrveranstaltungen lag der Fokus der Aufmerksamkeit auf den Auffassungen bzw. auf den Leitgedanken sowohl von Herskowitz als auch von Constantin Brailoiu.


Grundtext zur Besprechung der Ansätze von Brăiloiu war sein von João de Freitas Branco (1922-1989) ins Portugiesische übersetzter Beitrag zum Band Música der Enzyklopedie de la Pléiade (S. 132-141).


Ausgehend von diesem Text kreisten die Diskussion um die nicht-notierte Musik bzw. die Musik vor der Notation, von Geschichte vor der Geschichte, was Brăiloiu ein „Vor-Leben“ nannte. Hinter den frühest zur Verfügung stehenden Quellen – seien dies aufgenommene, notierte, visuelle oder schriftliche Dokumente – wird der Forscher mit einer Mauer des Schweigens konfrontiert. Diese Überlegung hinsichtlich einer vor-geschichtlichen Vergangenheit, die undurchdringlich ist, war nicht neu und stammte auch nicht von Brăiloiu selbst. Sie war bereits u.a. bei François-Joseph Fétis (1784-1971) anzutreffen.


Diese Gedanken waren für Brasilien von besonderer Relevanz. Diese war nicht nur anhand der Tonaufnahmen von Herskovitz offensichtlich, sondern traf vor allem auch auf die Erforschung indigener Musik zu. Die Überlegungen waren für die Diskussion über Notierung bzw. Transkriptionen mündlich überlieferter Musik bei der empirischen Musikforschung sowie über den Einsatz von Aufnahmegeräten bei der Forschung, über die Geschichte ihrer Anwendung, ihre Archivierung und die Analyse der aufgenommenen Musik von Bedeutung, wobei sowohl hinsichtlich des Notierungsvorganges und der Graphie als auch der technischen Aufnahmen und der Betrachtung der klanglichen Dokumente kontextgerecht vorgegangen werden sollte.


Brăiloiu erinnerte in dem diskutierten Grundtext an die indigenen Völker Amerikas, die keinesfalls als primitiv anzusehen seien. Das Studium der indigenen Musik ließ erkennen, dass sie einen tausendjährigen Prozess hinter sich hat, sodass sie weit davon entfernt war, ein  Ursprungsstadium zu dokumentieren. Sie stellte bereits das Ergebnis einer langen Entwicklung dar, war keinesfalls ein Anfang, wie in Brasilien u.a. von nationalistisch geprägten Musikographen und Komponisten angenommen wurde.


Brăiloiu hob in seinem Aufsatz hervor, dass die Notation eine späte Entwicklung in der Musikgeschichte war. Völker wie die Araber, deren Leistungen in Literatur und Kunst offenkundig waren, hatten keine Notierungen verwendet. Ein indigener Gesang stellt somit ein Dokument dar, und allein seine Existenz macht ihn zu einer „historischen“ Quelle. Brăiloiu war sich bewusst, dass diese seine Meinung eine polemische Diskussion hervorrufen könnte. Er  richtete seine Gedanken mit diesem Hinweis auf eine Vergangenheit vor dem Beginn der Geschichte, auf Vorzeitliches, auf eine Vergangenheit, deren Bild die alten Systeme, die allmählich durch die Forschung rekonstruiert werden, nach und nach sichtbar machen würde.

Die mühsam von den Forschern gesammelten und verglichenen Daten fingen gleichsam an zu sprechen. Die Entwicklung der Forschung in den letzten Jahrzehnten erlaubte nach ihm Schlussfolgerungen über diese vor-historische Zeit. Man stand somit zu Beginn einer neuen Phase der Forschung.

Text basierend auf Niederschriften der Vorlesungsreihe „Musik in der Begegnung der Kulturen“ von Prof. Dr. A. A. Bispo, Universität Köln 1997-2000, des Kolloquiums „Musik und Religion“ an der Universität Bonn 2003 sowie des Hauptseminars“ Mythologie und synkretistischer Ökumene in Kön 2007.