AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

50 jahre hochschullehre und forschung
antonio alexandre bispo

mediävistik &

ethnomusikologie


rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien

1970-1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo

fachbereiche
ästhetik, wahrnehmung, strukturaktionstheorie, fundamente der expression und kommunikation des menschen


Solange Corbin
1916-2017




Studien der einstimmigen Musik des europäischen Mittelalters sind nicht nur für europäische Länder von Bedeutung. In den außereuropäischen Regionen, die während den Entdeckungen von den Europäern erreicht wurden, erklang von Anfang an der einstimmige Gesang des katholischen Kultes. Im Verlaufe der Kolonisierungen und Missionierungen wurde der Kultgesang gepflegt, gelehrt, verbreitet und bei der Christianisierung indigener Völker eingesetzt. Dadurch spielte er eine bedeutende Rolle in Prozessen ihrer Kulturveränderungen. Residuen bzw. Ergebnisse dieser Interaktionen sind durch empirische Forschungen noch in der Gegenwart zu konstatieren. In den Ländern, deren Geschichte mit der Neuzeit einsetzt, ist demnach das Studium vorgegangener Zeit des Mittelalters in einer Kultur- und Musikforschung notwendig, die Prozesse fokussiert und sich den Grundlagen tradierter Kulturerscheinungen widmet.


Mitte der 1960er Jahren wurde von Musikhistorikern und Volkskundlern in São Paulo erkannt, dass sich die Berücksichtigung des Mittelalters nicht weiter auf die Wissensvermittlung gleichsam im Sinne einer Allgemeinbildung in den Werken einer „Universalgeschichte“ der Musik beschränken darf. Die Geschichtsbetrachtung der Musikgeschichte in der Neuen Welt – wie in nationalistisch orientierten Geschichten brasilianischer Musik vorgegangen wurde – kann ohne die Berücksichtigung ihrer Voraussetzungen nicht adäquat durchgeführt werden. Sie sind für das Verständnis und Analysen von Volkstraditionen in verschiedener Hinsicht unerlässlich.


Für ein Land wie Brasilien, das von den Portugiesen entdeckt, kolonisiert und missioniert wurde, ist die Aufmerksamkeit vor allem auf das portugiesische Mittelalter zu richten. Bei den Studien, die 1966 im Rahmen der luso-brasilianischen Migrantengemeinde São Paulos einsetzten und eine Erneuerung von Denk- und Sichtweisen bei der Kultur- und Musikforschung der von den Portugiesen geprägten Welt anstrebten, wurde die Auseinandersetzung mit dem Mittelalter angeregt. Diese Studien kamen dem Interesse entgegen, das in den 1960er Jahren für die Musik des Mittelalters und der Renaissance in Kreisen des Musiklebens São Paulos herrschte. Diese Begeisterung für die Entdeckung der vergessenen Vergangenheit der alten Musik richtete sich primär auf die Mehrstimmigkeit und die Instrumentalmusik, die vermehrt in Konzertprogrammen vertreten waren. Die Befassung mit dem einstimmigen Kultgesang blieb eher Studienkreisen vorbehalten.

Solange Corbin, die in der École Pratique des Hautes Études und als Dozentin der Universität Poitiers lehrte, war durch ihre Publikationen in São Paulo als renommierte Expertin für die Musikforschung Portugals anerkannt. Wie kaum ein anderer Musikforscher dieser Zeit war sie für das Studium der Musik des portugiesischen Mittelalters im Sinne einer kulturwissenschaftlichen, prozessorientierten Musikforschung in São Paulo von Bedeutung. Ihre 1960 veröffentlichte Dissertation La Déposition liturgique du Christ au vendredi Saint, sa place dans l'histoire des rites et du théâtre religieux (Lissabon 1960, Collection portugaise 12) brachte neue Einsichten in die Behandlung der Traditionen der Karwoche in der Volkskunde und förderte die interdisziplinäre Arbeit mit der Musikgeschichte. Das Werk gab Impulse zum Erkennen der Bedeutung der Karwoche in den brasilianischen Kultur- und Musikstudien in den 1960er Jahren. Es regte zur Teilnahme von Volkskundlern, Dozenten und Studenten an den liturgischen und paraliturgischen Zeremonien der Karwoche bei traditionsbewussten Bruderschaften São Paulos seit 1965 an, um erstmalig u.a. Veronika-Gesänge und Prozessionsmotetten zu erkunden. Bei diesen teilnehmenden Beobachtungen, die somit von der Gegenwart ausgingen, wurde die Karwoche in den Kulturstudien von einer anderen Warte aus betrachtet. Diese letztlich von Solange Corbin geweckte Aufmerksamkeit für die Karwoche als die am meisten traditionsverhaftete Zeit des Jahreszyklus führte in den folgenden Jahren zu Studien des liturgischen Gesanges im Rahmen des 1968 gegründeten Zentrums für Erforschung in Musikologie und zu Studienreisen für die Beobachtung von Karwochetraditionen in Minas Gerais und anderen Regionen Brasiliens.

Die Studien von Solange Corbin wurden auch bei der Befassung mit theoretischen Fragen der Notation und Paläographie berücksichtigt. Ihre Beiträge für die Enzyklopädie de la Pléiade, die in portugiesischer Übersetzung vorlagen, galten als Basisliteratur bei den Gregorianischen Studien des Forschungszentrums und in theoretischen Fachbereichen der Fakultät für Musik- und Musikerziehung des Musikinstituts von São Paulo in den 1970er Jahren. Solange Corbin behandelte in diesen Beiträgen die christliche Musik der ersten Jahrhunderte und die Neumen. Damit wurde die Beschäftigung mit den Neumen nicht zu einer abstrakten Übung – wie in Gregorianischen Kursen –, sondern sie wurden kontextualisiert und in ihrer Verwobenheit mit Kulturprozessen behandelt.

Text basierend auf Niederschriften der Vorlesungsreihe „Musik in der Begegnung der Kulturen“ von Prof. Dr. A. A. Bispo

Universität Köln 1997-2008 sowie der Seminare „Die Musik Portugals“ 2001, „Musiktheorie des Mittelalters – Dialoge von Kulturen und Religionen“ 2005 und der Übung zur Paläeographie und Semiologie unter kulturwissenschaftlichem Aspekt am Musikwissenschaftlichen Institut Köln 2006.