AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

50 jahre hochschullehre und forschung
antonio alexandre bispo

musik-lusitanistik
luso-brasilianistik


rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien

1970-1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo

fachbereiche
ästhetik, wahrnehmung, strukturaktionstheorie, fundamente der expression und kommunikation des menschen

Fernando Lopes Graça

1906-1994

Die Befassung mit der Musik und der Musikforschung Portugals stand verständlicherweise im Vordergrund bei den Debatten zur Einführung der Ethnomusikologie in den Hochschulstudien in São Paulo um 1970 und bei den darauffolgenden Lehr- und Forschungsveranstaltungen der Fakultät des Musikinstituts São Paulo.


Diese besondere Gewichtung war selbstverständlich aufgrund der gemeinsamen Sprache, der Kolonialvergangenheit Brasiliens und der portugiesischen Einwanderungswellen des 19. und 20. Jahrhunderts. Diese führten in São Paulo zu einer zahlenmäßig bedeutenden und kulturell vitalen lusitanen Gemeinde.


Sowohl die neue Leitung des Instituts als auch der Verantwortliche des Fachbereichs stammten aus luso-brasilianischen Familien und waren dadurch kulturell geprägt und in die Bestrebungen der Portugiesen und ihrer Nachkommen involviert, die zugleich nach Integration in die brasilianische Gesellschaft der Metropole und Differenzierung durch die Bewahrung und Pflege von Lebensweisen und Traditionen strebten.


Sowohl die Verantwortlichen für die Institution als auch für den Fachbereich hatten sich mit dieser Kulturprägung im Rahmen der in Folklore-Studien geübten Praxis der Alltagskulturforschung zur eigenen Kulturkonditionierung auseinandergesetzt. Dadurch fügten sich die Studien in eine bereits lange Geschichte der Lusitanistik und Luso-Brasilianistik in Brasilien ein, bei der auch die Musik sowohl unter historischen aber auch unter volkskundlichen Aspekten eine wichtige Rolle spielte.


Nicht nur Bücher aus Portugal wurden in Brasilien seit Jahrzehnten rezepiert, wobei Kulturzeitschriften im Dienst portugiesischer Propaganda auch Texte zu Musik und Volkstraditionen von Portugal und in den Kolonien in Afrika und Asien als Informationen boten. Portugiesische Musikforscher – wie Mário de Sampaio Ribeiro (1898-1966) – haben auch in Brasilien Studien zur Musikgeschichte Portugals veröffentlicht, die in Kursen zur Musikgeschichte in Konservatorien verwendet wurden.


Bedeutende Forscher portugiesischer Abstammung hatten sich vor allem in der Erforschung der Volks- und Unterhaltungsmusik seit Jahrzehnten hervorgetan. Ihre Studien – u.a. von Marisa Lira (1899-1971) – wurden von Volkskundlern studiert. Überhaupt war der Beitrag von Autoren portugiesischer Abstammung für das wertschätzende Studium von Sphären des Musiklebens von Bedeutung gewesen, die – wie die der Bühnen- und Popularmusik – von der Musikgeschichte und der Folklore-Forschung bis in die 1960er Jahre kaum Beachtung fanden.

Die Präsenz portugiesischer Forscher in Brasilien war überhaupt vor allem in Bereich der empirischen Kulturstudien maßgeblich. Mehrere brasilianische Volkskundler, Anthropologen und Sozialwissenschaftler standen in Beziehung zu Kollegen in Portugal, sei es ein Luís da Câmara Cascudo (1898-1986) in der Traditionsforschung, sei es ein Gilberto Freire (1900-1987) in einer sozial- und kulturwissenschaftlich orientierten Forschung. In São Paulo waren diese Beziehungen besonders ausgeprägt. Portugiesche Volkskundler bzw. Kulturanthropologen spielten eine wichtige Rolle beim internationalen Fachkongress zum Anlass der 400-Jahr-Feiern der Gründung São Paulos 1954.


Diese Beziehungen wurden weiterhin vom Museum für Volkskünste und Handwerk der Brasilianischen Gesellschaft für Folklore gepflegt. Nicht nur ältere Arbeiten von Teófilo Braga (1843-1924), J. Leite de Vasconcellos (1858-1941), Adolfo Coelho (1847-1919), Pedro de Freitas (1896-1963) und Gastão de Bettencourt (1894-1962) u.a. wurden weiterhin als Grundliteratur gelesen, sondern auch rezente Arbeiten studiert, wobei die Texte zur Kulturanthropologie von Jorge Dias (1907-1973) unter vielen Aspekten theoretisch wegweisend waren.


Bedeutende Forscher portugiesischer Abstammung hatten sich vor allem in der Erforschung der Volks- und Unterhaltungsmusik seit Jahrzehnten hervorgetan. Ihre Studien – u.a. von Marisa Lira – wurden von Volkskundlern studiert. Überhaupt war der Beitrag von Autoren portugiesischer Abstammung für das wertschätzende Studium von Sphären des Musiklebens von Bedeutung gewesen, die – wie die der Bühnen- und Popularmusik – von der Musikgeschichte und der Folklore-Forschung bis in die 1960er Jahre kaum Beachtung fanden.


Eine besondere Aufmerksamkeit wurde der Studie A Canção Popular Portuguesa von Fernando Lopes Graça in der Debatte zur Volksliedforschung geschenkt, die mit ihrer dritten Auflage 1973 erneut Anlass zu Diskussionen gab. In ihr äußerte Fernando Lopes Graça Ansichten über die Folklore, die Folklore-Forschung, das Volkslied und deren Bedeutung, die den besonders aktuellen Auseinandersetzungen über Begrifflichkeit und Gegenstand der Kulturforschung in São Paulo entsprachen und vielfach Anlass zu Kritik gaben.

Innerhalb der Kreise der portugiesischen Migration São Paulos wurde de Musikkulturforschung ab 1965 intensiviert. Im Rahmen der Alltageskulturforschung in Volkskunde-Kursen wurden mündliche Überlieferungen, Musik und Tanz der meist regional – aber auch politisch – organisierten Kreise erforscht. Eine wichtige Rolle spielte dabei der Volkskundler Edgard Arantes Franco, der auch zuständig für die Musik bei Feiern und Festen der von Portugiesen besonders frequentierten Fátima-Kirche in São Paulo war. Die Forschungen und Interviews führten zur Erhebung von Noten und zur Entdeckung von Handschriften zur Musik azorianischer Tänze des 19. Jahrhunderts, was 1966 den Blick auf die Azoren und die azorianischen Traditionen – vor allem des Kultes des Heiligen Geistes – in Brasilien richtete.


Die Intensivierung der Portugal-Studien in der Volks- und Musikforschung Brasiliens dieser Zeit erfolgte auf dem Wege über die atlantischen Inseln – Azoren und Madeira – und die Kolonien im allgemeinen, d.h. zentripetal aus Regionen der Expansion zurück zum historischen Mutterland. Diese Perspektive sollte die Entwicklung der in São Paulo entstandenen Arbeiten der Ethnomusikologie in der portugiesischsprachigen Welt für die folgenden Jahrzehnte bestimmen.


Die politischen Umwälzungen in den überseeischen Gebieten Portugals, das Ende des portugiesischen Indiens und die Befreiungskriege in Afrika brachten in der zweiten Hälfte der 1960er Jahren zunehmend die Notwendigkeit ins Bewusstsein, dass eine Erneuerung von Perspektiven in den luso-brasilianischen Studien auch und vor allem hinsichtlich der Volkskunde und der Musikforschung notwendig war.


Entsprechend der Bewegung Nova Difusão, die eine Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Prozesse forderte, wurde der Blick auf die Kolonialgeschichte, auf Kolonialisierungen und De-Kolonialisierung gerichtete sowie auf die Rolle der Musik bei Interaktionen von Prozessen sowohl in zeitlicher als auch räumlicher Hinsicht. Eine maßgebliche Rolle bei dieser Änderung von Sichtweisen spielte der portugiesische Komponist Jorge Peixinho (1940-1995), der 1970 in einem Vortrag für die Nova Difusão nicht nur für die Beachtung der neuen Tendenzen im zeitgenössischen Musikschaffen Portugals, sondern auch für die Überwindung von Ansichten hinsichtlich Geschichts- und Kulturbetrachtung der portugiesischen Präsenz in der Welt plädierte.

Im Rahmen der Vorbereitungen zur Einführung der Ethnomusikologie an der Fakultät wurde eine Studienreise in den Nordosten Brasiliens veranstaltet, die u.a. das Ziel hatte, die portugiesische Präsenz im Vereinswesen sowie in den Kulturtraditionen von Staaten wie Bahia, Sergipe, Alagoas und Pernambuco zu untersuchen. Nicht nur die Bedeutung der Portugiesen im Handel und im Kulturleben auch nach der Unabhängikeit Brasiliens konnte studiert werden, sondern auch die Rezeption von Auffassungen hinsichtlich Kulturstudien und Volkserziehung und ihre Bedeutung für die Geschichte der Musikerziehung und des Volksliedes in Brasilien.


Bei den Arbeiten konnte vor allem ein großangelegtes Werk des portugiesischen Komponisten Theodoro Cyro aufgedeckt werden, der um 1800 Kapellmeister des Domes von Salvador war, das bisher bedeutendste Werk eines portugiesischen Komponisten in Brasilien der Kolonialzeit. Teile dieses Werkes wurde von der Fakultät veröffentlicht und zur Eröffnung des Programms für die Musiklusitanistik des Faches Ethnomusikologie aufgeführt. Dabei wurde eine Tagung zur Erneuerung der Perspektiven in der Ethnomusikologie hinsichtlich Portugal und des portugiesischen Sprachraumes veranstaltet.


Zu den portugiesischen Musikforschern, die am Musikinstitut besonders berücksichtigt wurden, zählte Fernando Lopes Graça. Der Grund für diese Aufmerksamkeit war vor allem darin begründet, dass er für die portugiesische Ausgabe des Sammelwerkes zur Musik der unter Leitung des französischen Musikgelehrten Roland-Manuel (1891-1966) herausgegebene Enzyklopädie de la Pléiade verantwortlich war, das den Studierenden als Grundtext diente. Zu dieser Ausgabe trugen u.a. Francine Benoit (1894-1990, João de Freitas Branco (1922-1989), Maria da Graça Amado da Cunha (1919-2001), Mário Simões Dias (1903-1974), Manuel Ferreira de Faria (1916-1983), Maria Helena de Freitas (1920-2004), Nuno Gonçalves, Francisco Fernando Lopes (1884-1969), Emanuel Nunes (1941-2021), José Blanc de Portugal (1914-2000) und Luís Rodrigues (1906-1979) bei. In seiner Einladung hob Fernando Lopes Grança kritisch hervor, dass das Werk kaum Portugal und noch weniger Brasilien beachtete. In ihm fanden Länder Erwähnung, die viel weniger Bedeutung für die Musikforschung besaßen als Portugal und Brasilien. Weder die portugiesische Mehrstimmigkeit vom 16. bis zum 17. Jahrhundert noch ein Villa-Lobos (1887-1959) waren in der enzyklopädischen Publikation berücksichtigt. In ihm fand sich kein Musikologe aus Portugal oder Brasilien. Diese Abwesenheit könnte auf dem Weiterbestehen des Vorurteils beruhen, Portugal sei nichts anderes als eine Provinz Spaniens, die von spanischen Musikforschern zu behandeln sei. Auch wenn die Musik Portugals nicht die Bedeutung anderer Ländern erreicht hätte, gehörte die Musikgeschichte des Landes zu einem Prozess, der in einer allgemeinen Musikgeschichte unbedingt berücksichtig werden müsste.


Lopes Graça erinnerte aber zugleich daran, dass sich die Ansichten zum historischen Prozess der portugiesischen Musik zu dieser Zeit wandelten, eine Erneuerungsbestrebung, die eine Erweiterung von Perspektiven versprach. Portugal hatte maßgeblich zu Formungsprozessen im weltweiten Rahmen des modernen Geistes der Neuzeit beigetragen und dürfte keinesfalls in einer Musikgeschichte mit globaler Dimension verschwiegen werden. Aus diesem Grund erschien es Lopes Graça erforderlich, die Lücke in der Pléiade zu schließen und erwartete dafür die Mitwirkung von den Autoren, die bei der Übersetzung des Werkes mitgearbeitet hatten.


Diese Worte von Lopes Graça in der portugiesichen Edition der Pléiade von 1965 trugen zum Bewusstein über die Notwendigkeit bei, die Präsenz der Musikologen Brasiliens im internationalen Rahmen zu verstärken, die brasilianische Musikforschung zu internationalisieren und dafür die Zusammenarbeit mit den portugiesischen Musikgelehrten im Licht auch der von Jorge Peixinho angeregten Erneuerung zu intensivieren.


Die in São Paulo entstandenen theoretischen Ansätze und die Perspektive der Portugiesen und ihrer Nachkommen in Brasilien sollten in Europa bekannt gemacht und in internationaler Kooperation weiterentwickelt werden. Dieses Anliegen, das in den Fachbereichen Ethnomusikologie und Ästhetik 1972 diskutiert wurde, führte zur Organisation einer Reise nach Portugal, bei der in einer Zeit politischer Krisen und Veränderungen durch die Kriege in Afrika Tendenzen des Denkens, der Forschung und des Schaffens beobachtet werden sollten. Im Rahmen dieser Reise wurden 1973 Volks- und Musikforscher getroffen, Institutionen besucht , Archivstudien und auch Forschungen in

Regionen Portugals durchgeführt, aus denen die Teilnehmer der Reise abstammten.



Text basierend auf Niederschriften des von A.A.Bispo geleiteten Oberseminars

„Aktuelle Probleme anthropologischer Musikwissenschaft“ an der Universität Bonn 2003 und des Hauptseminars zur kulturwissenschaftlich orientierten Musikforschung an der Universität Köln 2005.