AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

50 jahre hochschullehre und forschung
antonio alexandre bispo

komparative musikologie

& semantik


rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien

1970-1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo

fachbereiche
ästhetik, wahrnehmung, strukturaktionstheorie, fundamente der expression und kommunikation des menschen

Alain Daniélou
1907-1994

Alain Daniélou zählte zu den Musikforschern, die eine maßgebliche Rolle bei den Debatten zur Vergleichenden Musikwissenschaft und Musikethnologie spielten, die seit Mitte der 1960er Jahren in São Paulo geführt wurden.


Diese herausragende Bedeutung von Daniélou in Kreisen, die sich für eine Erneuerung von Ansichten in Kultur- und Musikstudien in São Paulo einsetzten, ist besonders zu beachten. Sie verweist auf eine bestimmte Gewichtung bei der Rezeption musikwissenschaftlicher Publikationen und bei der Auseinandersetzung mit internationalen Tendenzen des Denkens und der Sichtweisen. Diese Orientierung unterschied sich in vieler Hinsicht von den stärker durch Bindungen an die USA bestimmten Forschern und Netzwerken musikethnologischer Studien in Lateinamerika, unter denen sich vor allem das renommierte Zentrum für volkskundliche und ethnomusikologische Forschungen in Caracas/Venezuela sowie andere Zentren Brasiliens hervorhoben, die später um Forscher entstanden, die ihre Ausbildung in nordamerikanischen Universitäten erhielten.


Die Betrachtung der Denk- und Sichtweisen sowie des Werkes von Alain Daniélou setzte eine Auseinandersetzung mit dem Kulturleben Frankreichs zu Beginn des 20. Jahrhunderts und den Wegen seiner Ausbildung und Studienreisen voraus. Er stammte aus einer Familie, die sich in der französischen Politik, Kirche und Kultur hervortaten – sein Bruder ist der Theologe und Kardinal Jean Daniélou S.J. (1905-1974) – und er genoss seit frühester Kindheit musikalische Ausbildung. Er bildete sich in klassischem Tanz und Komposition aus (u.a. bei Max d'Ollone 1875-1959), führte Studien in Nordamerika sowie Reisen durch Nordafrika, Kleinasien, China, Japan und Indonesien durch und ließ sich schließlich in Indien 1932 nieder.


Sein Interesse für systematische Fragen zeigte sich bereits in der 1942 veröffentlichten Introduction to the study of musical scales. Daniélou widmete sich dem Studium der Musik und Philosophie Indiens, lernte Vina, Sanskrit und Hindi. 1949 wurde er für die Forschung an der Universität von Benàres – Banares Hindu University zuständig. Die Sammlung und Durchsicht von musiktheoretischen Quellen machte ihn zum Experten indischer Musik in Philosophie und Praxis und bestimmte seine weiteren Studien und Publikationen.


1952 schrieb er Yoga, méthode de réintégration und zwischen 1949 und 1953 erschien in zwei Bänden sein Northern indian music. 1954 wurde er zum Leiter des Forschungszentrums der Bibliothek von Adyar mit ihrem reichhaltigen Bestand an Werken auf Sanskrikt und 1956 wurde er in das Französische Institut für Indologie in Podichéry aufgenommen. Er führte seine Studien mit Forschungen in Südostasien, Afghanistan und Iran fort. 1957 erschien sein La musique du Cambodge et du Laos, 1958 sein Tableau comparatif des intervalles musicaux, es folgte sein bahnbrechendes Traité de musicologie comparée und 1959  La musique des Purana. Er wurde 1963 Direktor des International Institute for Comparative Music Studies and Documentation Berlin. 1967 wurde seine Sémantique musicale als Essai de pychophysiologie auditive veröffentlicht.


Mehrere Faktoren können die Bedeutung von Daniélou in São Paulo erklären. Sie ergab sich nicht nur aus der engeren Nähe zur französischen Sprache und Kultur der Kreise von Musikforschern, empirischen Kulturforschern und Sozialanthropologen São Paulos, die die Entwicklungen in Frankreich näher als diejenigen in den USA verfolgten. Als Experte für indische Musik, der sich selbst in die hinduistische Welt integrierte, stellte Daniélou ein Beispiel für einen Forscher dar, der sich bei der Auseinandersetzung mit einer außereuropäischen Welt, Denk- und Weltsicht sowie Lebensweise deren Ganzheitlichkeit zu erfassen suchte, in sie eintauchte und sich von ihr erfassen ließ.  Mit dieser Hinwendung zu Indien und mit seiner Hinwendung zu einem ganzheitlichen Denken, das sich auf alle Aspekte des Lebens auswirkte, stand er einer geisteswissenschaftlich geprägten Tradition des Denkens, Forschens und Lebens viel näher, die aus zentraleuropäischen Kontexten der Jahrhundertwende stammend in São Paulo wirksam war. Deren Hauptvertreter war Martin Braunwieser (1901-1991), der für die Musikforschung bei der bahnbrechenden Forschungsexpediktion in den Nordosten Brasiliens des Kultursekretariats São Paulo 1938 zuständig gewesen war und dem die künstlerische und wissenschaftliche Leitung des Musikinstituts São Paulo – IMSP – oblag.


In dieser in São Paulo weiterwirkenden Strömung des Denkens in Europa – u.a. in Großbritanien, Österreich und der Schweiz – spielte die Musik Indiens von ihren Anfängen an eine wichtige Rolle, die u.a. durch die Mitwirkung indischer Musiker bei der musikalischen Tagung  im Goetheanum im schweizerischen Dornach 1926 in beeindruckender Weise bezeugt ist. Daniélou erschien in seinem Denken, seinen Ansichten und Lebensweisen gleichsam als eine Aktualisierung dieser Richtung der auf Erkenntnisgewinnung ausgerichteten Studien, die in Brasilien eng mit dem Zentrum für die Kommunion des Denkens São Paulos (Centro Esotérico da Comunhão do Pensamento), im allgemeinen mit der Theosophie und mit der Anthroposophie verbunden waren.

Grundlegende Aspekte seines Denkens wurden in seinen Ausführungen zur Natur der Musik in der Einleitung zu seinem Traktat zur Komparativen Musikwissenschaft vermittelt, das in Paris 1959 erschien (Traité de musicologie comparée, Paris: Hermann) . Diese Publikation war das erste umfassende Traktat vergleichender Musikwissenschaft, das in Frankreich veröffentlicht wurde und wurde dementsprechend in São Paulo besonders beachtet. Der Mensch vergisst nach Daniélou allzu oft, dass die Mehrzahl der Elemente des aktuellen Musiksystems und -vokabulars mit einer tausend Jahre alten kosmologischen Theorie und einer uralten Symbolik verbunden ist, wie auch die Wurzeln und die Formen der Sprache als Werkzeug des Denkens sowie die Art, Zeit und Raum zu messen. Es gibt Beziehungen zwischen Musik, Gesetzen des Universums und mentalen Strukturen, sodass sich eine Theorie der Musik mit Problemen befasst, die semantischer, psychologischer, metaphysischer Art sind. Die Musik basiert auf akustischen Beziehungen und die Beschäftigung mit ihnen führt den Forscher zur Symbolik der Zahl, zum Studium der Bindungen zwischen Physik und der mentalen Welt.


Das Traktat für komparative Musikologie von 1959 wurde als Grundliteratur bei den Kursen der Musikethnologie und Ästhetik  – hier insbesondere der Strukturaktionslehre – der Musikfakultät des IMSP ab 1972 verwendet.


Es wurde u.a. von Studierenden der Komposition diskutiert, da Danièlou in ihm das westliche Musiksystem kritisierte und für ein älteres, auf  einem auf Konsonanzkonzepten antiken Ursprungs basierendes System eintrat, was neue Perspektiven für das Musikschaffen eröffnete. Mit Unterstützung des Tonarchivs von São Paulo konnten mehrere von Daniélou herausgegebene Schallplatten bei den Vorlesungen verwendet werden. Die Unesco-Collection: A Musical Anthology of the Orient diente mit ihren ausführlichen Kommentaren Vorlesungen u.a. zur Musik Indiens, Kambodschas, Laos, Afghanistans und des Iran. Die Besprechung der in diesem Traktat erörterten Themenkomplexe, wie Elemente der Musiksprache, Intervalle, Quintenzyklus in der chinesischen Musiktheorie und Tonika-Bezüge in der modalen Theorie der Hindus sowie seine Ansichten über die „Konfusion“ der Systeme der Musiktheorie der Griechen sowie der westlichen Tonleiter bestimmten die Lehrinhalten der Kurse der Strukturationstheorie und somit der systematischen Musikwissenschaft in der Fakultät.


Mit der Veröffentlichung von Sémantique musicale: Essai de psychophysiologie auditive (Paris: Hermann 1967) kam Daniélou in vieler Hinsicht den Bestrebungen des 1968 gegründeten Zentrums der Erforschung der Musikforschung der Nova Difusão entgegen, die für Überwindungen von Grenzen, auch solchen zwischen Theorie und Praxis, eintrat. Daniélou erschien als Beispiel für den Forscher, der sich prozesshaften Interaktionen öffnete und somit selbst Wandlungen in seiner Denkweise und Identifikation erlebte. Seine Werke kamen mehreren Bestrebungen zur Überwindung von Grenzen, Schranken und Normen entgegen. Einerseits entsprach er dem Interesse für Außereuropäisches, Globales und Ganzheitliches, andererseits der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Zeichen und der Bildersprache.


Seine Sémantique musicale wurde als Basispublikation der Kurse für Wahrnehmung/Perzeption im Rahmen des Fachbereites Ästhetik der Musikfakultät eingesetzt. Von seinem Ansatz her entsprach das Werk primär dem Interesse für Psychoakustik und Auditive Physiologie der Universität São Paulo, Daniélou verwies aber in seinem Denken auf die praktische  Bedeutung dieser Studien für die Musikerziehung und auf ihre Anwendungsmöglichkeiten im Unterricht, was für die Aus- und Fortbildung von Musikerziehern maßgeblich war, aber auch für die Musiktherapie und das Musikschaffen. In der Musikethnologie wurden seine Gedanken zur Erforschung des Verhältnisses zwischen Musik und Magie besprochen. In Hinblick auf ästhetische Fragestellungen gaben die Darlegungen Daniélous zu den Beziehungen zwischen Klang und Farbe wichtige Impulse für Überlegungen zur Synästhesie, die sich im synästhetischen Laboratorium des Zentrums musikwissenschaftlicher Forschungen der Nova Difusão in pädagogischen Experimenten niederschlugen.


Die Sémiologie wurde nicht nur im Rahmen der Visuellen Kommunikation und der Beschäftigung mit der Psychoakustik in der Fakultät für Architektur der Universität São Paulo, sondern auch in einer dafür eingerichteten Fachgruppe innerhalb des Zentrums für Musikforschung sowie in der empirischen Kulturforschung diskutiert. Bemerkenswert erschien bei Alain Danièlou vor allem, dass er in seinen Werken verschiedene Ansätze der Forschung und Prozesshaftes mit Systematischem, Empirischem und Deduktivem in Verbindung brachte. Diese Verfahrensweise lieferte die Grundlage dafür, dass bei der Reform des Hochschulsystems, das zur Einführung der Musikethnologie in der Ausbildung und Fortbildung von Musikerziehern, Musikern und Komponisten führte, die Fachbereiche Musikethnologie und Ästhetik – nicht nur als Philosophie und Kunsttheorie, sondern als Wahrnehmungswissenschaft und Strukturierungslehre – in personaler Union geführt wurde.


Das Interesse für den Hinduismus und ganzheitliche Welt- und Menschensichten war in Kreisen der jüngeren Generation der 1960er Jahre ausgeprägt. Diese Faszination für Indien und indische Spiritualität beeinflusste Lebensweisen von jungen Menschen, die sich auch um eine Erneuerung des Wissens und der Lebenshaltung durch Befreiung von eingefahrenen Gleisen, Strukturen und einschränkenden Normen bemühten. Alain Daniélou diente darüber hinaus als Identifikationsfigur für eine Persönlichkeit, die sich auch von Grenzen sexualmoralischer Normen befreite. Über die Jahrzehnte sollte er durch seine lebenslange Beziehung zum Photographen Raymond Burnier (1912-1968) als herausragende Persönlichkeit einer gay musicology geachtet und zelebriert werden.

Text basierend auf Niederschriften der Vorlesungsreihe „Musik in der Begegnung der Kulturen“ von Prof. Dr. A. A. Bispo, Universität Köln 1997-2000, der Seminare „Cultural Studies“ und „World Music“ der Universität Bonn sowie der Lehrveranstaltung zum kulturwissenschaftlichen Ansatz in der Musikwissenschaft an der Universität Köln 2005.