AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

50 jahre hochschullehre und forschung
antonio alexandre bispo


italo-brasilianistik


rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien

1970-1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo

fachbereiche
ästhetik, wahrnehmung, strukturaktionstheorie, fundamente der expression und kommunikation des menschen

Roberto Leydi
1928-2003

In einer Stadt, die wie São Paulo im Musikleben so sehr von der italienischen Migration geprägt war, wo italienische Musiker und Lehrer den Unterricht in den Konservatorien maßgeblich bestimmten, ist es nachvollziehbar, dass auch in der Musikgeschichte und in der musikalischen Volkskunde die Rezeption von Publikationen und damit von Tendenzen der Musikforschung in Italien besonders ausgeprägt war.


In der Folklore-Forschung hob sich Roberto Leydi hervor. In ihm sah der Präsident der Brasilianischen Gesellschaft für Folklore, Rossini Tavares de Lima (1915-1987), einen in Auffassungen und Ansätzen verwandten Folklore-Forscher. Seine Arbeiten wurden von ihm studiert und in den rezenteren Auflagen seines weitverbreiteten Handbuchs ABC do Folclore erwähnt, besprochen und übernommnen. Damit wurden die Ansichten und Studien von Leydi in der Mehrheit der offiziellen Konservatorien bekannt.


Leydi wurde unter Musikern, Musikforschern und Musiklehrern São Paulos zu einem der am meisten bekannten europäischen Folkloristen und Ethnologen. Dadurch wurde auch der Weg zur Erforschung der Popularmusik bei den Kulturstudien durch sein Beispiel erleichtert. Roberto Leydi, der sich in seiner Jugend vor allem der zeitgenössischen Musik und dem Jazz widmete, hob sich seit den 1950er Jahren als Forscher der Folklore und der Popularmusik unter dem Aspekt ihrer sozialen Bedeutung hervor. Seine Auffassungen über die soziale Funktion der Folklore kamen der Überzeugung von Rossini Tavares de Lima entgegen.


Im Museum für Folklore São Paulos (Museu de Artes e Técnicas Populares) wurde von Leydi die „Nuova ipotesi sul canto folkloristico italiano nei quadro della musica popolare mondiale“ (Nuovi Argomenti 17 und 18, Rom 1955 und 1956) eingehend studiert. Vor allem sein 1959 erschienenes Buch Musica popolare e musica primitiva (Torino-Eri 1959) wurde zu einer Leitlektüre.


Diese Publikation diente ab 1972 auch als Grundtext im Fach Ethnomusikologie des Musikinstituts São Paulo. Trotz der Kritik an dem Begriff „musica primitiva“, wurden seine Studien hinsichtlich der verschiedenen Regionen oder Areale in den entsprechenden Modulen des Studiums besprochen. Mit dieser Einteilung in Räume von Leydi wurde sich im Lichte der Diskussion über die Probleme einer geographischen Zuordnung von Stilen, Musikinstrumenten und Praktiken durch verschiedene Autoren der Vergleichenden Musikwissenschaft und in den Folklore-Studien Brasiliens auseinandergesetzt. Die von Joaquim Ribeiro (1860-1934) 1930 vorgenommene Einteilung von Kulturarealen in Brasilien diente trotz ihrer Probleme als Grundlage für die Folklore-Studien.


Vor allem wurde die Rezeption der Ansätze eines Alan Lomax (1915-2002) durch Leydi beachtet. Die Auffassung, dass es 12 Musikstile gäbe, nämlich den alten euroasiatischen, den eurasiatischen, den kolonialen, afrikanischen, pygmoiden, Koi-san (Boschimanen und Hottentoten), malgasischen, australianischen, melanesischen, mikronesischen, polynesischen undamerindischen – von dem der andinische zu unterscheiden wäre –, wurde als mögliche Orientierung zur Einteilung der Module an der Fakultät erwogen, aber im Verlaufe der kritischen Debatten verworfen. Die von Leydi erwähnten Charakteristiken dieser Areale dienten immerhin einer ersten Annäherung der Studierenden an die Differenzen verschiedener musikkultureller Kontexte im weltweiten Rahmen.


In dem Kapitel zu den Quellen der brasilianischen Folk-Musik in seinem ABC do Folklore stützte sich Rossini Tavares de Lima auf die auf Lomax basierende Einteilung von Leydi. Nach dieser Klassifizierung würde die Folk-Musik Brasiliens in der dritten Kategorie der Klassifizierung, nämlich des Kolonialen eingeordnet. In dieses Areal fielen einerseits die europäischen Musikphänomene, die in Kolonialgebiete transplantiert wurden, andererseits diejenigen, die in den Kolonialgebieten entstanden waren, seien es alte euroasiatische, euroasiatische, afrikanische oder amerindische Traditionen.


Nach Leydi würde der alten euroasiatische Stil nur in dem Kolonialareal sowie in Südafrika bei Portugiesen, Franzosen, Deutschen, Norditalienern u.a. zu finden sein. Da es in diesen Gruppen auch afrikanische Elemente gab, sei schwer festzustellen, ob die festgestellten Charakteristiken als alt-euroasiatisch oder afrikanisch anzusehen sind, da sie gemeinsame Merkmale aufwiesen.


Bei den Lehrveranstaltungen im Fach Ethnomusikologie wurde diesen auf Leydi zurückgehenden Ausführungen von Tavares de Lima Gegenstand eingehender Studien, aber auch kritischer Diskussionen. Abgesehen von der grundsätzlichen Problematik der geographischen und kartographischen Bestimmung von Musikarealen, die in Zusammenarbeit mit der Abteilung für Geographie der Philosophischen Fakultät der Universität São Paulo diskutiert wurde, wurde die Inkohärenzen und Willkür der Kriterien zur Bestimmung der verschiedenen Räume bemängelt.


Vor allem die Unterscheidung eines Bereiches des Kolonialstils wurde als Zeichen einer ungenügenden Auffassung des Kolonialismus als Prozess in seinen weltweiten Dimensionen angesehen. Diese Kategorisierung widersprach in grundsätzlicher Weise der prozessorientierten Musikkulturforschung, die von der Bewegung Nova Difusão vertreten wurde. Durch die ausführliche Übernahme der Einteilung von Leydi im seiner 5. Auflage 1972 wurde diese Klassifikation von aktueller Bedeutung, was eine eingehende Diskussion ihrer Problematik bei der in diesem Jahr eingeführten Ethnomusikologie verlangte.  


Text basierend auf Niederschriften der Vorlesungsreihe „Musik in der Begegnung der Kulturen“ von Prof. Dr. A. A. Bispo, Universität Köln 1997-2000, des Oberseminars zu Problemen der anthropologischen Musikwissenschaft an der Universivät Bonn 2002/3 sowie des Seminars zum kulturwissenschaftlichen Ansatz in der Musikwissenschaft in Köln 2005.


Bilder: Opernhaus von Neapel, Freilichmalerei und Handwerk von Capri