50 jahre hochschullehre und forschung
antonio alexandre bispo

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

ISMPS

ISMPS

AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

folkmusik  

ethnomusik

erziehung


rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien

1970-1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo

fachbereiche
ästhetik, wahrnehmung, strukturaktionstheorie, fundamente der expression und kommunikation des menschen

Isabel Aretz
1909-2005
Luís Felipe Ramón y Rivera

1913-1993

Seit 1966 wurde im Rahmen der Bestrebungen zu Neuorientierungen in den Musikkulturstudien in São Paulo, die für eine Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Prozesse in grenzüberschreitenden Perspektiven und Vorgehensweisen eintraten, die Anknüpfung des Denkens an die Tradition der Vergleichenden Musikwissenschaft in Brasilien als besonders geboten erörtert.


Die Rezeption rezenterer Publikationen zur Musikethnologie aus den USA ließ die Diskussion entstehen, ob die Ethnomusicology nordamerikanischer Prägung – wie von vielen hervorgehoben – nicht nur eine neue Bezeichnung, sondern einen Ersatz für die alte Vergleichende Musikwissenschaft mit neuen theoretischen Prinzipien und Verfahrensweisen darstellte.


Die Ethnomusicology schien den Bestrebungen zu neuen Wegen einer jungen Generation der 1968er Jahren zu entsprechen, die über rezente internationale Tendenzen informiert war und ein Bewusstsein hatte, zu einer intellektuellen Avantgarde zu gehören. Die Spannung zwischen europäischen Denkströmungen der komparativen Musikforschung und der nordamerikanischen Ethnomusicology prägte die Studien und Überlegungen des 1968 gegründeten Zentrums für Forschungen in Musikologie.


Kritisch diskutiert wurde u.a. die Verwendung einer Vorgehensweise, nämlich des Vergleichs, als Bezeichnung der Forschung. Die Bezeichnung ethnomusicology - die in der europäischen Forschung keineswegs neu war - schien eher zu einer Auffassung von Musikforschung zu passen, die auf Kulturprozesse in der komplexen Gesellschaft der Metropolen mit ihren Bevölkerungsgruppen unterschiedlicher ethnischer Herkunft zielte. Der Begriff erschien gar als eine näher spezifizierte Bezeichnung schlechthin für die Musikforschung.

Wichtige Anregung für die Bemühungen um die Institutionalisierung der Ethnomusicology auf Hochschulebene war die Tatsache, dass in Venezuela bereits ein Zentrum für musikethnologischen Studien bestand (INIDEF), das inzwischen einen Modellcharakter für die sich als progressiv empfindenden Musikforscher anderer Ländern hatte.


Luis Felipe Ramón y Rivera (1913-1993) und Isabel Aretz (1909-2005) waren neben anderen Folkloristen und Musikethnologen bereits seit langem bekannt in Kreisen der Volkskunde São Paulos. Ihre Publikationen wurden mit Aufmerksamkeit studiert und die von ihren Kreisen ausgehenden Impulsen aufgenommen.


In Caracas wirkten auch brasilianische Kultur- und Musikforscher, die in Intellektuellenkreisen der Volkskunde Brasiliens als Vertreter sozialkritischer und linksorientierter Positionen in einer von der Militärregierung geprägten Zeit angesehen waren. Durch Vermittlung von Instanzen des Kultusministeriums in Brasilien sollte sich die dortige Diskussion mit der Bewegung für die Durchsetzung der Ethnomusicology in Lateinamerika des Zentrums in Caracas auseinandersetzen. Die Zusammenarbeit sollte durch die Vergabe eines Stipendiums für einen Forschungsaufenthalt in Venezuela zur Entwicklung von fachlichen Kooperationen gefördert werden, was allerdings nicht verwirklicht wurde, da inzwischen der Fachbereich Ethnomusikologie in die Fakultät für Musik und Musikerziehung des Musikinstituts São Paulo integriert wurde.


Bei den Überlegungen und Studien zur Einführung der Musikethnologie als Fachbereich auf Hochschulebene in São Paulo 1970/71 spielten somit nordamerikanische Anregungen zur Entwicklung des Faches auf dem Umweg über die lateinamerikanische Rezeption von Ansätzen aus den USA in Venezuela eine wichtige Rolle. Es entstand die singuläre Situation, dass die Rezeption nordamerikanischer Denkrichtungen in Brasilien politisch eher von linksorientierten Positionen gefärbt war. Allerdings wurde der Begriff auch von nationalistisch denkenden Kulturforschern gleichsam als Ersatz der alten, national geprägten Volkskunde benutzt, wozu die Bezeichnung auch verleitete. Mehr als Venezuela stand Brasilien – und vor allem São Paulo – in einer stärkeren Tradition der Vergleichenden Musikwissenschaft Europas.



Isabel Aretz war bei den Volkskundlern São Paulos besonders wegen ihres weit verbreiteten Manual de Folklore seit dessen Erscheinen 1955 bekannt und ihre Auffassungen wurden seitdem kritisch diskutiert. Sie stellte eine Änderung des Verständnisses der Forschungsbereiche Ethnologie und Folklore fest. Ihr Manual war noch von der Ansicht geprägt, die Ethnologie habe als Gegegenstand das Studium des Indigenen, die Folklore widmetesich dem „hombre folk“ d.h. den „zivilisierten Menschen“, die mehr oder weniger eine traditionelle Kultur besitzen. Sie stellte aber auch im Verlaufe der 1960er Jahre eine Tendenz fest, unter Ethnologie umfassend Kulturstudien zu verstehen und den Begriff Folklore für das Studium der traditionellen Kultur in all ihren Aspekten zu verwenden.


Sie schloss sich in ihrer Denk- und Sichtweise zunehmend dieser Richtung an und widmete sich dem Studium der traditionellen Kultur des „hombre folk“ von Venezuela. Diese Auffassung des Forschungsbereichs und vor allem das Konzept des „hombre folk“ wurden bei den Debatten am Museum São Paulos und im Fach Ethnomusikologie der Musikfakultät als problematisch diskutiert.


Die Beachtung von Isabel Aretz bei der Einführung der Lizenziatur in Musik- bzw. Kunsterziehung erklärte sich auch dadurch, dass sie in ihrem Manual seit langem die Bedeutung der Folklore-Studien für die Erziehung hervorhob. Eine Änderung des Verständnisses des Fachbereiches und vor allem auch ihrer Tendenz zum Studium „traditioneller Kultur des hombre folk“ hatte zwangsläufig Auswirkungen für ihre Überlegungen zur angewandten Folklore.


Ebenfalls problematisch erschienen Auffassungen von Luis Felipe Ramon y Rivera, von denen u.a. das weit verbreitete Buch Música Indígena, Folklórica y Popular de Venezuela (Buenos Aires 1967) und Música Afrovenezoelana (Caracas 1971) besonders beachtet wurden. Auch bei ihm wurden Fragen der Begrifflichkeit aufgeworfen. Seine Verwendung des Begriffs etnomusica entsprach auch dem Sprachgebrauch einiger brasilianischer Autoren, die auch von folcmúsica bzw. música folc sprachen. Diese Terminologie offenbarte eine Kategorisierung des Gegenstandes der Betrachtung, die im Rahmen der Bewegung zur Erneuerung von Denk- und Sichtweisen Nova Difusão, die für eine grenzüberschreitende, prozessorientierte Ausrichtung der Aufmerksamkeit eintrat, kritisiert wurde.

Text basierend auf Niederschriften der Vorlesungsreihe „Musik in der Begegnung der Kulturen“ von Prof. Dr. A. A. Bispo, Universität Köln 1997-2000, der Seminare „Cultural Studies“ und „World music“ an der Universität Bonn 2003 sowie der Lehrveranstaltungen zu dem kulturwissenschaftlichen Ansatz in der Musikwissenschaft, zu „Musik und Gnosis“ und“Musik im Denken der Antike - Interkulturelle Philosophie“ in Köln 2005-2008.