AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT 

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

50 jahre hochschullehre und forschung
antonio alexandre bispo

indonesiologie


rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien

1970-1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo

fachbereiche
ästhetik, wahrnehmung, strukturaktionstheorie, fundamente der expression und kommunikation des menschen

Jaap Kunst
1891-1960
Ernst Schlager &
Théo Meier
 

1908-1982

Das Interesse, das Indonesien in den Musikkstudien in São Paulo in den 1960er und 1970er Jahren entgegengebracht wurde, mag zunächst befremdlich erscheinen, da kaum bedeutendere Beziehungen zwischen Brasilien und Indonesien in der Geschichte zu verzeichnen sind. Es erklärt sich nicht nur aus der Faszination für die Gamelan-Musik, die durch Dokumentarfilme, Tonaufnahmen und sporadische Auftritten von Ensembles geweckt wurde, sondern aus ihrer Bedeutung in musiktheoretischer Hinsicht. Die Beachtung der erreichbaren Literatur über das Tonsystem und die Tonleiter der Musik von Java und Bali erlangte für die vergleichende Musikwissenschaft über Jahrzehnte Bedeutung. 


Bei der Einführung des Ethnomusikologie auf Hochschulebene an der Musikfakultät des Musikinstituts São Paulo 1972 wurde die Musik Balis Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit. Die kulturwissenschaftliche Orientierung des Fachbereiches und vor allem die enge Zusammenarbeit mit der Ästhetik führten zu einer Intensivierung und zugleich Gewichtsverlagerung des Interesses an der Musik Balis. Diese Studien bildeten den Anfang einer Entwicklung, die zu Kooperationen und zu Beobachtungen auf Bali selbst in den folgenden Jahrzehnten führte.


Den Studierenden der Ethnomusikologie stand als Grundtext zur Besprechung der Beitrag zur „Musik von Bali“ von Ernst Schlager in der Enzyklopedie de la Pléiade zur Verfügung, der in portugiesischer Übersetzung vorlag. Der Schweizer Ernst Schlager begründete allein durch seine Forschungsgeschichte die Bedeutung der interdisziplinären Orientierung der Ethnomusikogie in ihrer Zusammenarbeit mit der Ästhetik in São Paulo. Seine Hinwendung zur balinesischen Musikkultur kann nicht ohne seine Beziehung zum Kunstsammler Theo Meier aus Basel betrachtet werden, der sich in den 1930er Jahren auf Bali niederließ. Schlager war nicht nur Musikforscher, sondern ein Chemiker, der in der Firma Sandoz tätig war. Während einer Dienstreise durfte er 1942 beim Kriegseintritt Japans vorerst nicht in die Schweiz zurückkehren. In Begleitung von Theo Meier führte er bis 1945 Musikstudien in Bali durch. Theo Meier interessierte nicht nur die traditionelle Kunst, sondern auch die Moderne auf Bali. Dieses  Interesse ließ Paralellen zu Kunstentwicklungen in Brasilien erkennbar werden, da auch unter brasilianischen Vertretern der Moderne in der Kunst durch die Rezeption französischer Tendenzen eine Faszination für die Kunst der Inselwelt des Ostens erkennbar war. 


Schlager betonte einleitend in seinem Text die Bedeutung der Religion als Faktor der Bewahrung der reichen Musikkultur Balis. Er erinnerte an Gamelane und an Melodien, die als himmlisch erachtet wurden und deshalb nicht verändert werden sollten (pituron). Musik gehörte zum Bestandteil der Opfer, die bei den Tempelfesten geopfert wurden. Nachdem der Beschreibung der wichtigsten Musikinstrumente Balis  – diejenigen, die die Tonleiter bestimmen, und die Schlaginstrumente – bot er den Studierenden eingehende Informationen über die rituelle heptatonische Musik. Dabei erinnerte er daran, dass früher Bali aus weitgehend autonomen Dörfern bestand, die die Unterschiede in der Musik oder gar der Tonleiter erklären. Die Tonleiter und die Bezeichnung  der Töne – ding dong dan deng dung dang dong – sowie die Analyse ihrer Struktur wurden zum Gegenstand eingehender Betrachtung und zum grundlegenden Prüfungsbestandteil des Faches Ethnomusikologie. 


Die Erklärungen Schlagers bezüglich der Übersetzung des Textes in Musik und sein Vergleich mit Verfahrensweisen des europäischen Mittelalters eröffneten transepochale und transkulturelle Betrachtungen. Seine Ausführungen über die Konkordanz zwischen Text und Musik, die bei der letzten Silbe jeder Linie obligatorisch ist, wurden besonders berücksichtigt. Auch der von ihm hervorgehobene Unterschied zwischen der Heptatonik der Tonleiter und der Pentatonik der Musikkonzeption von Java und Bali wurde Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit. Studiert wurden seine Ausführungen und Transkripitionen über den Gesang Kidung und der Ensembles Saron bzw. Tjaruk, Gambang, Selunding, Gong Luang bzw. Gong Saron. 


Bei der Behandlung der klassischen Musik Balis erinnerte Schlager daran, dass die Gamelans, die die hinduistischen Javanesen nach Bali eingeführt hatten, im Verlaufe der Jahrhunderte Veränderungen erfahren hatten, sodass die balinesische Musik heute anders ist als die javanisch. In seinen Ausführungen wurden die Gruppe Gambuh – die er als eine Art balinesische Oper bezeichnete – sowie die feierlichen Gong Gedê, die Gender Wayang für die Darstellungen „chinesischer“ Schatten, die Angkulung für den Kult der Verstorbenen und die pastoralen Genggong als Beispiele der Vielfalt der Ensembles studiert. 

In einer gemeinsamen Sitzung mit dem Fach „Estruturação“ (Strukturationstheorie) wurde seine Studie über einen Komposition-Typus des Semar Pegulingan besonders berücksichtigt.


Neue Perspektiven für die Überlegungen eröffnete der Aufsatz von Schlager dadurch, dass er die rezenteren Entwicklungen der Musik Balis berücksichtigte und damit dem Interesse an Fragen der Diffusion entgegenkam, die die Bewegung zur Erneuerung von Denk- und Sichtweisen in São Paulo prägten. Er erinnerte u.a. an den Djangar als Beispiel für die schnelle Diffusion einer Modeerscheinung auf Bali seit den 1930er Jahren. Seine Ausführungen über die Popularisierung von Elementen, die aus Kultpraktiken exorzistischer Art entstanden, ermöglichten Vergleiche zu Prozessen in Brasilien. Um 1930 wurde der Djanger nur von jungen Männern gespielt, die auch weibliche Rollen verkörperten, und erst später wurden sie durch Mädchen ersetzt. Die Ausführungen Schlagers über die Bilder und Erwartungen über Frauen und Männer auf Bali führten die Diskussion über Parallelen in Brasilien. Unter den rezenteren Entwicklungen erwähnte er ein Ensemble, das von Plantagenarbeitern gebildet wurde, erstmalig 1955 in Erscheinung trat und den „Flirt-Tanz“ Djogèd betraf, bei dem die Anziehung der Männer durch junge Frauen inszeniert wurde. Schlager vermutete hier einen Einfluss der durch Radio und Schallplatten rezipierten Popularmusik, die „balisanisiert“ wurde. 


Die Studien der Musikkultur Indonesiens wurden ab 1974 mit indonesischen Gelehrten in Deutschland und England sowie mit Waldemar Stohr (1925- 1999) am Völkerkundemuseum Kölns fortgeführt.

Text basierend auf Niederschriften der Vorlesungsreihe „Musik in der Begegnung der Kulturen“ von Prof. Dr. A. A. Bispo Universität Köln 1997-2000, der Seminare „Cultural Studies“ und „World music“ an der Universität Bonn 2003 sowie der Lehrveranstaltungen zu dem kulturwissenschaftlichen Ansatz in der Musikwissenschaft in Köln 2005-2008.