AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

50 jahre hochschullehre und forschung
antonio alexandre bispo

immanenzen
in musik und kult
candomblé und umbanda




rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien

1970-1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo

fachbereiche
ästhetik, wahrnehmung, strukturaktionstheorie, fundamente der expression und kommunikation des menschen

Alberto Soriano

1915 – 1981

Der in Santiago del Estero, Argentinien, geborene, aber in Salvador, Bahia, aufgewachsene Musikkomponist und -forscher Alberto Soriano wurde im Rahmen der Besprechungen von für die Musikethnologie relevanten Autoren und deren Publikationen und Ansätzen an der Musikfakultät des Musikinstituts São Paulo eingehend berücksichtigt.


Diese Aufmerksamkeit auf Soriano erklärte sich durch das besondere Anliegen der Fachbereiche Musikethnologie und Ästhetik, Beziehungen zu Autoren, Institutionen und Denkströmungen der Nachbarländer Argentinien und Uruguay zu vertiefen. Wie bei den Gesprächen in Montevideo und Punta del Este 1973/1974 hervorgehoben wurde, sollten Publikationen, Autoren und Forschungszentren aus anderen lateinamerikanischen Ländern in Brasilien besonders beachtet werden. Die panamerikanischen und interamerikanischen Bestrebungen, die sich seit Anfang des Jahrhunderts entwickelten, waren eng mit der Geschichte Brasiliens des 20. Jahrhunderts verbunden. Brasilien war in Geschichte und Gegenwart besonders mit Uruguay verbunden. Dort hatte auch das in den 1930er Jahren in Montevideo gegründete Interamerikanische Institut für Musikwissenschaft seinen Sitz.


Nicht nur für die historische Musikwissenschaft, sondern auch für die empirische Musikforschung waren die wechselseitigen Beziehungen zwischen Brasilien und anderen lateinamerikanischen Ländern von Bedeutung, wie die auf Feldforschung beruhenden Beiträge in Publikationen der 1930er und 1940er Jahren bezeugen. Die Wechselseitigkeit der Beziehungen sollte hervorgehoben werden, da in Brasilien nicht nur Musiker und Musikforscher studierten und forschten, sondern auch Brasilianer in Initiativen und Institutionen anderer lateinamerikanischer Länden mitwirkten.


Zur Zeit der Einführung der Musikethnologie im Hochschulstudium in São Paulo bestanden enge Kontakte zu Caracas. Venezuela erschien zu dieser Zeit als Hauptvertreter einer nordamerikanisch geprägten Ethnomusicology in Lateinamerika. Die 1967 von der Facultad de Humanidades y Ciencias der Universität Montevideo herausgegebenen Arbeit „Einige ethnomusikologische Immanenzen“ (Algunas de las Inmanencias Etnomusicológicas) erlangte für die Entwicklung der Musikethnologie im Kreis des 1968 in São Paulo gegründeten Zentrums für Musikforschungen der Gesellschaft Nova Difusão und für die Institutionalisierung des Faches in der Musikfakultät des Musikinstituts São Paulo 1972 Bedeutung.


Bei der Gründung des Zentrums für Musikforschung wurde Soriano als Professor für Ethnologie der Musik an der Fakultät für Geisteswissenschaft in Montevideo kontaktiert. Er pflegte Beziehungen zu renommierten brasilianischen Musikgelehrten und -forschern, wie Andrade Murici (1895-1984) und Eurico Nogueira França (1913-1992), die eng mit den Studien des Forschungszentrums sowie mit dem Volkskunde-Museum São Paulos verbunden waren.

Soriano studierte Violine am traditionsreichen Musikkonservatorium von Salvador, das mit der Persönlichkeit des Komponisten Silvio Deolindo Froes (1864-1948) verbunden war.  Soriano fügt sich durch seine Ausbildung mit Froes in eine Tradition des französischen Denkens, der Kunst- und Musikanschauungen sowie der Anthropologie des 20. Jahrhunderts ein, das von der Faszination für die außereuropäische Kultur und insbesondere für die afrikanische Kunst und Lebensweise geprägt war.


In Salvador trat er in Kontakt zu Kreisen des Candomblé, was seine Studien und Denk- und Sichtweisen zutiefst prägte. Seine Teilnahme an Kult- und Festpraktiken sowie seine Interesse für Dichtung und Musikstudien führte ihn in die Nähe von Autoren wie Jorge Amado (1912-2001) und prägte seine Kultur- und Musikauffassungen, seine Studien und sein Musikschaffen. Forschung und Schaffen waren für ihn untrennbar verbunden, was in seinen Kompositionen zum Ausdruck kommt. Er schrieb u.a. zahlreiche „Magical Chants“. 1968 erschien seine Studie três orações e outros cantos na liturgia negra, die ebenfalls in Montevideo von der Universität veröffentlicht und im Rahmen der Debatten um die neuen Ansätzen in empirischer Kulturforschung von Kultformen und religiöse Praktiken eingehend diskutiert wurde.


Aus diesen Erfahrungen der Wirkung der Musik, die seine Persönlichkeit und seine Denk- und Sichtweisen prägten, entstand auch die Ausrichtung seines Denkens und Interesses auf ethnomusikologische Immanenzen. Dieser Begriff wurde in Brasilien in der Debatte eingehend diskutiert. Wenn auch zunächst im Gegensatz zu Transzendenz für eine wissenschaftliche Annäherung als eher angemessen erachtet, wurde die notwendige Differenzierung zwischen immanent und intrinsisch hervorgehoben. Wie beim Zentrum für Musikforschung der ND vertreten wurde, sollte die Aufmerksamkeit bei der Analyse der Zeichensprache nicht auf Immanenzen, sondern auf intrinsisch gegebene Bedeutungen des in der Lektüre von Texten und Zeichen Sichtbaren gerichtet werden, was allerdings nicht als willkürliche Interpretationen verstanden werden dürfte

Bei der Besprechung seiner Publikationen wurde u.a. seine Studie Las cinco llegadas de la Madre d'Agua (Buenos Aires 1943) ausgehend von den Studien, die in verschiedenen Kontexten und Städten, so in São Paulo, Santos, Praia Grande und vor allem in Salvador 1971/72 durchgeführt wurden, kritisch besprochen, da sie in vieler Hinsicht unangemessene Deutungen erkennen ließ.


Die kritische Auseinandersetzungen mit den Auffassungen von Soriano zielten auf ihre Ausrichtungen auf Wesenhaftes, auf Essentialität in der Kulturbetrachtung. Bereits 1940 veröffentlichte er den Text Esencialidad Musical: ritualismo y humanismo en este arte (Montevideo: ABC).


Der Essentialismus im Denken von Soriano ließ auch sein damit zusammenhängendes Interesse an der Erforschung von Immanenzen erklären. Sein Werk über die Immanenzen wurde Gegenstand eingehender Analysen in mehreren ihrer Aspekte, u.a. zu genealogischen Faktoren, zu Ursprungsfragen und zu der von ihm formulierten „instinktiven Elementarität“.


Als Beispiel der unter vielen Aspekten problematischen Annährungsweisen von Soriano wurden den Studierenden der Musikethnologie die von ihm übersetzten Tabellen mit Frequenzen der Schreie von Primaten aus  vorgelegt. Auch die von ihm wiedergegebenen Tabellen über Vokalisierungen von Affen, die von dem Primatologen C.R. Carpenter (1905-1975) 1934 erstellt wurden, wurden Gegenstand kritischer Diskussion.

Text basierend auf Niederschriften der Vorlesungsreihe „Musik in der Begegnung der Kulturen“ von Prof. Dr. A. A. Bispo, Universität Köln 1997-2000, des Kolloquiums zu Musik und Religion an der Universität Bonn 2003, sowie der Seminare zum kulturwissenschaftlichen Ansatz in der Musikwissenschaft und Musik in der Gnosis 2005 und zu Mythologie und synkretistischer Ökumene in Köln 2007.


Bilder: Salvador, Bahia und Praia Grande, São Paulo. Aus dem Archiv des ISMPS.