AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

50 jahre hochschullehre und forschung
antonio alexandre bispo

ethnologie
& esthétique

française


rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien

1970-1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo

fachbereiche
ästhetik, wahrnehmung, strukturaktionstheorie, fundamente der expression und kommunikation des menschen

André Schaeffner
1895-1980

André Schaeffner gehörte zu jenen Forschern aus dem Umkreis des Musée de l’Homme von Paris, zu denen brasilianische Volks- und Musikforscher in São Paulo Beziehungen unterhielten und deren Publikationen sie besonders beachteten. Die seit dem 19. Jahrhundert bestehenden engen Bindungen der brasilianischen Denker und Künstler zu Paris erfuhren vor allem in den Visuellen Künsten und in der Musik nach dem I. Weltkrieg  eine Intensivierung und eine Ausrichtung auf die innovativen Tendenzen im Geistesleben, der Kunst und dem Musikschaffen Frankreichs.


In den 1930er Jahren wurden die Beziehungen zur Pariser Universität und zu Institutionen wie dem Musée de l’Homme für die Entwicklung der Geistes- bzw. Kulturwissenschaften in São Paulo wegweisend. Französische Forscher wirkten bei der Errichtung der Philosophischen Fakultät der Universität São Paulo mit und prägten Generationen von Intellektuellen. Geschichts- und Sozialwissenschaften und vor allem die Anthropologie wurden tiefgreifend von französichen Tendenzen des Denkens geprägt. Claude Lévy-Strauss (1908-2009), dessen in Brasilien entstandenen Studien zum Strukturalismus führend waren und international über Jahrzehnte die Wissenschaften prägten, war mit den Intellektuellenkreisen São Paulos tief verbunden.


Vor allem das Interesse in Brasilien der 1930er Jahren für afro-brasilianische Themen wurde von französischen Denkern und Forschern geprägt. Sie entsprachen der Faszination für Afrika, vor allem für Westafrika, die das Geistesleben, den Kunsthandel und die Kunstentwicklung von Frankreich der Moderne vielfach bestimmte und sich international auswirkte. Diese Begeisterung für die afrikanische Kunst Westafrikas, vor allem auch von Benin, ging auf alte  Beziehungen der Kolonialgeschichte Frankreichs zurück, die unter den Bedingungen der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen eine Intensivierung erfuhren. Die Expedition Dakar des Musée de l’Homme unter André Schaeffner stellte einen Markstein dieser Entwicklung dar.


Als Korrespondent der Zeitung O Estado de São Paulo hielt sich der Politiker, Publizist, Archäologe und Dichter Paulo Junqueira Duarte (1899-1984) während der autoritären Regierung Brasiliens in den 1930er Jahren in Paris auf und knüpfte enge Beziehungen zu Persönlichkeiten und Institutionen des Musée de l’Homme. In seinem Werk Der Geist der Kathedralen, das 1958 erschien, widmete er dem Museum ein eigenes Kapitel. Er berichtete über die Kontakte eines Brasilianers – Tietê Borba – im Museum ab 1933, das damals als Museum Trocadero bekannt war, und dessen persönliche Beziehungen zu Paul Rivet (1876-1958).  


Das Interesse für Ethnographie in Brasilien zu diesen Jahren war in Frankreich bekannt und Rivet hatte drei Expeditionen zur Erforschung indigener Gruppen nach Brasilien mit organisiert, die von Jehan Vellard (1901-1996) durch den Araguaia nach Pará, die von Lévi-Strauss zu den Bororo und eine zu den Nambiquara der Gebirge Parecis, die wie die vorherige vom Kulturamt São Paulo getragen wurde. Die Bedeutung der Ethnologie als Wissenschaft wurde bei diesen Beziehungen erörtert wie auch die Notwendigkeit, Ethnologen auszubilden, die bei aller literarischen Bildung primär Naturwissenschaftler sein sollten. Das Institut für Ethnologie in Paris hatte als Aufgabe, vor allem die ethnologischen Studien zu koordinieren und fortzuentwickeln, die den französischen Kolonien galten. Die Veranstaltungen des Instituts wurden von Studierenden der Sorbonne besucht.


Das Kapitel über das Musée de l’Homme im Werk von Paulo Duarte, das das Weiterleben fortschrittlicher Tendenzen im Geistesleben in Paris zur Zeit der Fremdbesatzung dokumentierte, wurde in den 1960er Jahren in Kreisen der Volkskunde und der Ethnologie São Paulos eingehend beachtet und förderte ein neues Interesse für rezente Studien französischer Autoren. Hinsichtlich der Musik galt diese Aufmerksamkeit vor allem André Schaeffner, der neben Paul Rivet und Georges-Henri Rivière (18977-1985)  die Errichtung des Musée de l’Homme 1937 seit 1929 vorbereitete und maßgeblich zum Aufbau der Sammlungen von Musikinstrumenten beitrug. Diese Sammlungen wurden auf der Grundlagen derjenigen des vorausgegangenen Musée d’Ethnographie du Trocadero aufgebaut, zu denen Instrumente aus anderen Institutioinen wie das Musée Guimet, des Musée du Conservatoire National de Musique, des Musée des Antiquités de Saint-Germain-Laye, des Musée de l’Opera, der Nationalbibliothek u.a. hinzu kamen.



Die führende Rolle von André Schaeffner in der Musikinstrumentensammlung des Musée de l’Homme und damit bei den organologischen Studien Frankreichs wurde aufmerksam im Museum für Volkskünste und -Techniken São Paulos beachtet, das im Verlaufe der 1960er Jahren bestrebt war, seine Instrumentensammlung zu erweitern, systematisch zu ordnen und auszustellen.


Fragen nach den Ursprüngen von Instrumenten, die in Volkstraditionen Brasiliens vorkamen, waren an der Tagesordnung. Sie entfachten sich u.a. um das Xylophon, das bei Spielen an der Küste São Paulos bei zu dieser Zeit durchgeführten Forschungen festzustellen war. Wenn auch die Leistung Schaeffners als Vorbild und Anregung für diese Bemühungen dienten, wurden seine Auffassungen auch kritisch besprochen.  


Zum einen wurde von Volkskundlern wie Rossini Tavares de Lima (1915-1987)  im Licht seiner Diskussion über einen die Mystik hervorhebenden Ansatz von Roger Bastide (1898-1974) bei Forschungen afro-brasilianischer Kultformen eine allzu literarische, ja geradezu poetische, imaginative, künstlerische Prägung französischer Autoren bemängelt, eine Poetik, die auch in Texten von André Schaeffner zu vernehmen war. Zum anderen wurden Fragen der Systematik von Musikinstrumenten aufgeworfen, die vor allem nach den Kriterien von Sachs-Hornbostel als eine künstlich auferlegte, naturwissenschaftliche und positivistische, letztlich oberflächliche Ordnung erschien, die kulturwissenschaftlichen Ansprüchen und Erfordernissen nicht genügte. Auch die von André Schaeffner vorgenommenen Änderungen brachten keine grundsätzliche Abkehr von einer Denkweise in der Organologie, die auf logisch erarbeitete Systematisierung ausgerichtet war, und schienen der viel besungenen Tendenz französischer Denker zur Klarheit stiftenden Ordnung und Logik zu entsprechen.


Die Forderung nach Überwindung eines Denkens nach Kategorisierungen des Objektes, von Betrachtungsweisen nach Klassen und Kompartimenten durch eine Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Prozesse – wie sie von der Erneuerungsbewegung Nova Difusão vertreten wurde – schärfte die Aufmerksamkeit für theoretische Problemen im Denken von André Schaeffner,  was auch später mit ihm selbst in Paris besprochen werden sollte. Im Fachbereich Ethnomusikologie der Musikfakultät São Paulos wurde der Organologie besondere Aufmerksamkeit geschenkt. In einzelnen Lehrveranstaltungen wurden nicht nur die Werke von Curt Sachs (1891-1959), sondern auch von Jaap Kunst (1891-1960)und vor allem die grundlegende Arbeit von K. G. Izikowitz Musical and other Sound Instruments of the South American Indians (Göteborg 1935) besprochen.


Den Studierenden lag als Grundtext von Schaeffner sein Aufsatz zur Genese der Musikinstrumente vor, das im Sammelwerk zur Musik in der Enzyklopädie der Pléiade erschienen ist und in portugiesischer Übersetzung für Portugal und Brasilien zur Verfügung stand. Mit dem Thema hatte er sich bereits in seinem 1936 in Paris erschienenen Origine des instruments de musique befasst, das in der Bibliothek der Fakultät vorhanden war. Er hatte das Thema wieder aufgegriffen in dem Aufsatz „Les Instruments de musique“ in La Musique des origines à nos jours (Paris 1946).  Als Experte für afrikanische Musik wurde seine Arbeit Les Kissi: une société noire et ses instruments de musique (Paris 1951) in der Modulle Afrikanistik besprochen.


In diesem Aufsatz brachte Schaeffner das Alter der Musikinstrumente in Bewusstsein, deren Entstehung in ihrer Mehrheit in die Antike und überhaupt ins Dunkel vorgeschichtlicher Zeit zurückführt. Er erinnerte dabei an die Lyra und die Harfe, die sich aus ihr heraus entwickelt hätte, um Ausbreitungsareale in der ganzen Welt zu bestimmen, vermutete eine Derivation des Musikbogen, den er als ein „primitives“ Instrument auffasste, das noch in Afrika und Ozeanien anzutreffen war, eine Auffassung, die naturgemäß in Brasilien auf heftigen Widerspruch traf. Er erwähnte Knochenpfeifen, die er auf das Paläolithikum zurückführte und als Vorläufer der Flöte ansah.


Schaeffner sprach von einer Periode der Experimente in vorgeschichtlicher Zeit und vermutete, sie würden von Kriterien der Suche bzw. Erweiterung von Klangfarben geleitet sein. Als Beispiel nannte er das Xylophon und beklagte die Schwierigkeiten, seine Vergangenheit zu erforschen, da es in den Kulturen des Mittelmeerraums und des Nahen Ostens nicht vorkommt. Die ausführlichen Erwägungen von Schaeffner hierzu mussten notwendigerweise in São Paulo vor dem Hintergrund der Debatte über die „Marimb“a der „Congos“ von Ilha Bela eingehend besprochen werden.


Schaeffner ging auf Instrumente ein, deren Entstehung er auf die Bronzezeit zurückführte, die aber als Vorgänger Instrumente aus Holz, Muscheln, Hörnern und Stoßzähnen hätten, und schließlich auf entwickeltere Instrumente, die u.a. bei den Lauten im Schaz von Shoso-in bei Osaka aus dem 8. Jh. D.C. aufbewahrt wurden. Seit ferner Vergangenheit hätten sich Instrumentengattungen herausgebildet, die den Instrumentenbau über Jahrhunderte bestimmten. Früh hätten sich die Richtungen der Evolution der Instrumente ausgebildet, und er erwähnte die Hypothese eines Ursprungsfokus der Ausbreitung. Bei einem Inventar der verschiedenen Typen von Instrumenten sollte sich der Forscher eher auf die Ethnologie als auf eine auf Europa zentrierte Musikgeschichte stützen. Es wäre nach ihm jedoch falsch anzunehmen, dass die Evolution vom einfachen zum komplexeren, vom kleinen zum größeren verliefe.


Ein Unterkapitel seines Textes ist den Resonanzkörpern gewidmet. In ihm ging Schaeffner eingehend auf diese Instrumente ein, was angesichts der Debatte über die für die indigene Kultur Brasiliens so bedeutsame Maraca von besonderem Interesse war. Dementsprechend wurden seine Ausführungen eingehend besprochen. Sie konnten nicht in Einklang mit den Ergebnissen der Forschung gebracht werden, die gleichsam den Kern der organologischen Debatte in São Paulo bildeten. Wenn er auch in seinen Ausführungen über die klangliche „Verkleidung“ einsieht, dass der physische Faktor in der Betrachtung nicht überbewertet werden sollte und dass die Form der Instrumente des „primitiven Musikers“ – vor allem die Saiteninstrumente – deren Zwecken diente, genügten seine Ausführungen keinesfalls den bereits erreichten Erkenntnissen der Zeichenforschung. Schaeffner redeten in unangemessener Weise von Extravaganzen des Geschmacks, von der überbordenden Imagination, die in den Singularitäten von Instrumenten zum Ausdruck kommt, von einem Geschmack des Bizarren. Unter diesen Ansichten über das Verhältnis zwischen Form und Funktion leiden auch seine Ausführungen über die Saiten- und Blasinstrumente.  


Der als Basistext von André Schaeffner dienende Aufsatz in der Pléiade schien mit den in ihm veröffentlichen Erwägungen in Form, Inhalt und vor allem in seinem Ansatz als veraltet.


(…)


Text basierend auf Niederschriften des von A.A.Bispo geleiteten Oberseminars

„Aktuelle Probleme anthropologischer Musikwissenschaft“ an der Universität Bonn 2003 und des Hauptseminars zur kulturwissenschaftlich orientierten Musikforschung an der Universität Köln 2005.