AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

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ein dokumentationsprojekt

50 jahre hochschullehre und forschung
antonio alexandre bispo

AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

50 jahre hochschullehre und forschung
antonio alexandre bispo

alltagskulturforschung
& musik


rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien

1970-1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo

fachbereiche
ästhetik, wahrnehmung, strukturaktionstheorie, fundamente der expression und kommunikation des menschen

Der antike, apollinische Spruch aus dem Delphi-Tempel „Erkenne Dich Selbst“ (Gnothi seauton) wurde als Leitgedanke für die Vorgehensweisen in den Fachbereichen Ästhetik und Ethnomusikologie der Fakultät für Musik und Musikerziehung des Musikinstituts São Paulo – IMSP – zu Beginn der 1970er Jahren gewählt. Die Auseinandersetzung mit ihm bildete den philosophischen Ausgangspunkt für Lehre und Anleitung zur Forschung. Die Studierenden, die meist bereits in ihrer Musikausbildung in Konservatorien das Fach Folklore bzw. „nationale Folklore und Ethnographie“ besucht hatten, waren von traditionalistischen, völkischen und nationalistischen Vorstellungen über den Gegenstand und die Themen der volkskundlichen Forschung geprägt. Die Vermittlung von Kenntnissen über – meist bäuerliche – Traditionen, über das Repertoire von mündlichen Überlieferungen, Volks- und Kinderliedern, Volkstänzen und -spielen bestimmten über Jahrzehnte die Lehrpläne.


Dieses Wissen wirkte sich auf das Musikschaffen und in der Musikpädagogik aus. Die Verwendung von Elementen der Volksmusik in Kompositionen entsprach einer nationalen bzw. nationalistischen Musikästhetik, die bei allen unterschiedlichen politischen Tendenzen der Musikschaffenden – seien sie rechts- oder linksorientiert – dem Gedanken einer kollektiven Identität von Volk und Nation diente. Das Musikrepertoire für die Schulen bestand vor allem aus Hymnen, patriotisch gefärbten Heimatlieder und Gesängen, die in Text und Musik auf Volkstraditionen hindeuteten. Komponisten und Musiktheoretiker, die diesem ästhetischen Kanon nicht folgten, wurden über Jahrzehnte aus verschiedenen politischen Richtungen politisch verfemt, als unpatriotisch oder europahörig, fremdgeleitet, unnational, eurozentrisch verschrien.


In Verlaufe der 1960er Jahren erlangte diese Problematik eine erneute Aktualität und Brisanz. Einerseits war eine Wiederbelebung nationalistischer Ästhetik feststellbar, die nicht nur von Vertretern traditionalistischer Kunst- und Popularmusik gefördert wurde, sondern auch paradoxerweise in einer Kirchenmusik, die in Erneuerungsabsicht Impulse aus dem II. Vatikanischen Konzil verwirklichen wollte. Andererseits suchten junge Komponisten und Musiktheoretiker Anschluss an zeitgenössische Entwicklungen internationaler Strömungen und Tendenzen, was sie von der Beschäftigung mit der Musiksprache tradierter Volksmusik distanzierte. Dieser Verlust an Interesse für Folklore von jungen Komponisten wurde bei einem dazu einberufenen Round Table von der Zeitung O Estado de São Paulo 1971 thematisiert und mit Volkskundlern diskutiert.


































Die Lebenswirklichkeit einer Metropole wie São Paulo, in der Bevölkerungsgruppen verschiedenster Provenienzen lebten, ließ die an Folklore orientierte Musikästhetik fraglich erscheinen, wenn nicht die Auffassung dessen, was unter Folklore zu verstehen ist, grundlegend überdacht würde. Die Medien und die Massenkommunikation bestimmten das Leben der metropolitanen Gesellschaft und bedingten eine andere Situation im Verhältnis zu internationalen Entwicklungen.


Die Musiklehrer trafen in ihren Schulklassen auf Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichsten Migrationsgeschichten und es wurde als nicht mehr vertretbar empfunden, sie zwangsweise mittels einer folkloristisch geprägten Musik einer national verstandenen Volksgemeinschaft zu assimilieren. Die Bestrebung nach Einheit sollte nicht auf Kosten der Vielfalt geschehen, zumal gerade die Diversitäten der vielen Gruppen der Gesellschaft den Kulturreichtum der Metropole und die Vitalität der Interaktionen und der Veränderungsprozesse ausmachte: nicht Assimilation der Schüler aus verschiedenen ethnischen Gruppen an die metropolitane Welt durch Hymnen, Sambas, Batuques oder Modinhas, sondern Integration in eine Gesellschaft, die die Diversität achtete und die Einheit eher im ethischen Sinne des Miteinanders, der Gleichberechtigung und Solidarität verstand. Die Beziehungen zwischen Ästhetik und Ethik sollten neu reflektiert werden.


Die Einführung des Lizenziats für Musikerziehung, das die Ausbildung im Orpheonischen Gesang ersetzen sollte, sollte die Lehrer für die Wertschätzung dieser Vielfalt vorbereiten. Sie sollten in die Lage versetzt werden, die verschiedenen Welten und Prozesse, in die sich ihre Schüler einfügten, zu erkunden, zu achten, an ihnen zu partizipieren und damit die Interaktionen der verschiedenen Gruppen teilnehmend zu begleiten. Diese Verfahrensweise bedeutete eine grundlegende Änderung bisheriger Ansichten und Methoden der Musikerziehung. Voraussetzung dafür war eine Änderung hinsichtlich der Mentalität der Lehrer selbst, deren Aufgabe nicht mehr die Vermittlung einer Musik im Dienste nationalistischer Ideale war.  Die Lehrer – vielfach mit eigener Migrationsgeschichte – sollten sich in erster Linie der eigenen Kulturkonditionierungen bewusst werden, um reflektiert und ehrlich vorgehen zu können.


Von der Gegenwart ausgehend, sollten die Studierenden der Musik und Musikerziehung den Alltag, in den sie sich in der Familie und im Kreis ihrer näheren Beziehungen hinfügten, empirisch erforschen. Die Alltagskulturforschung war zunächst individuell bezogen, von der Position des Beobachters selbst ausgehend, bevor sie gruppenbezogen durchgeführt werden konnte. Alle Studierenden sollten zu Beginn eine Arbeit zur eigenen Alltagskulturforschung vorlegen (folclore do dia-a-dia).


Diese Verfahrensweise war keineswegs neu, da sie bereits vor Jahren von Volkskundlern und Sozialwissenschaftlern angewendet wurde, die fortschrittlich nach Erneuerung von Denk- und Sichtweisen strebten. Die Praxis in Kursen zur Volkskunde São Paulos in den 1960er Jahren, von den Studenten zu verlangen, eine Analyse der eigenen Kulturkonditionierung und deren Auswirkung auf das eigene Leben und die Beziehungen zum sozio-kulturellen Umfeld vorzunehmen, trug maßgeblich zur Entwicklung des theoretischen und methodischen Auffassungen der empirischen Kulturforschung bei. Diese Praxis wurde unterschiedlich angewendet und veränderte sich konzeptionell je nach Institution im Verlaufe der Jahre. Sie wurde im Fach „Folklore“ bzw. „Musikalische Folklore“ einiger Konservatorien, im Bereich der Vergleichenden Musikforschung sowie ab den 1970er Jahren sowohl im Fach Volkskunde als auch Musikethnologie auf Hochschulebene verlangt. Sie wurde bei der Spezialisierung und Schulung von Volkskundlern  am Museu de Artes e Técnicas Populares von São Paulo angewendet.


Die Aufgabe wurde zwar nicht immer in adäquater Weise erfüllt. Sie sollte sich nicht auf eine Studie eigener Familiengeschichte reduziert werden, die von Befragungen von Eltern und Verwandten ausging und nur dazu diente, das Interesse an der Genealogie mit der dazu notwendigen Erhebung von Informationen in historischen Dokumenten zu wecken. Sie wurde zwar zuweilen verkürzt als historischer Familienbericht bezeichnet, ihre Zielsetzung war jedoch nicht primär geschichtlich von historischen Quellen ausgehend, sondern empirisch. Sie diente als Einführung in die Ethnomusikologie, die in erster Linie Erkenntnisse aus Beobachtungen, Umfragen, Erfahrungen, Erleben und Partizipation zu gewinnen suchte. Sie ging von der Gegenwart aus und wandte sich gleichsam eher rückschließend auf die Vergangenheit. Sie unterschied sich von einem Verständnis der Volkskunde, die bei der Betrachtung der in der Gegenwart weiterlebenden traditionsgebundenen Spiele, Aufzüge, Kultformen, Musik- und Tanzpraktiken primär von ihren historischen Ursprüngen ausging und dementsprechend – wie von progressiven Volkskundlern wie Rossini Tavares de Lima – nicht als Folklore-Forschung, sondern als Geschichte der Folklore aufgefasst werden sollte.


Von der Gegenwart ausgehend, sollten die Studierenden der Musik und Musikerziehung den Alltag, in den sie sich in der Familie und im Kreis ihrer näheren Beziehungen hinfügten, empirisch erforschen. Die Alltagskulturforschung war zunächst individuell bezogen, von der Position des Beobachters selbst ausgehend, bevor sie gruppenbezogen durchgeführt werden konnte. Alle Studierenden sollten zu Beginn eine Arbeit zur eigenen Alltagskulturforschung vorlegen (trabalho de pesquisa do folclore do dia-a-dia).


Diese Verfahrensweise war keineswegs neu, da sie bereits vor Jahren von Volkskundlern und Sozialwissenschaftlern angewendet wurde, die fortschrittlich nach Erneuerung von Denk- und Sichtweisen strebten. Die Praxis in Kursen zur Volkskunde São Paulos in den 1960er Jahren, von den Studenten zu verlangen, eine Analyse der eigenen Kulturkonditionierung und deren Auswirkung auf das eigene Leben und die Beziehungen zum sozio-kulturellen Umfeld vorzunehmen, trug maßgeblich zur Entwicklung des theoretischen und methodischen Auffassungen der empirischen Kulturforschung bei. Diese Praxis wurde unterschiedlich angewendet und veränderte sich konzeptionell je nach Institution im Verlaufe der Jahre. Sie wurde im Fach „Folklore“ bzw. „Musikalische Folklore“ einiger Konservatorien, im Bereich der Vergleichenden Musikforschung sowie ab den 1970er Jahren sowohl im Fach Volkskunde als auch Musikethnologie auf Hochschulebene verlangt. Sie wurde bei der Spezialisierung und Schulung von Volkskundlern  am Museu de Artes e Técnicas Populares von São Paulo angewendet.


Die Aufgabe wurde zwar nicht immer in adäquater Weise erfüllt. Sie sollte sich nicht auf eine Studie eigener Familiengeschichte reduziert werden, die von Befragungen von Eltern und Verwandten ausging und nur dazu diente, das Interesse an der Genealogie mit der dazu notwendigen Erhebung von Informationen in historischen Dokumenten zu wecken. Sie wurde zwar zuweilen verkürzt als historischer Familienbericht bezeichnet, ihre Zielsetzung war jedoch nicht primär geschichtlich von historischen Quellen ausgehend, sondern empirisch. Sie diente als Einführung in die Ethnomusikologie, die in erster Linie Erkenntnisse aus Beobachtungen, Umfragen, Erfahrungen, Erleben und Partizipation zu gewinnen suchte. Sie ging von der Gegenwart aus und wandte sich gleichsam eher rückschließend auf die Vergangenheit. Sie unterschied sich von einem Verständnis der Volkskunde, die bei der Betrachtung der in der Gegenwart weiterlebenden traditionsgebundenen Spiele, Aufzüge, Kultformen, Musik- und Tanzpraktiken primär von ihren historischen Ursprüngen ausging und dementsprechend – wie von progressiven Volkskundlern wie Rossini Tavares de Lima – nicht als Folklore-Forschung, sondern als Geschichte der Folklore aufgefasst werden sollte.


Diese Auffassung des Fachbereichs begründete eine Unterscheidung zu dem der Musikgeschichte, wie sie in den Konservatorien gelehrt wurde. Die historische Betrachtung von Spielen, Aufzügen,  Musik- und Tanzformen, auch wenn die Traditionen in der Gegenwart noch weiterleben, wurde auch in Publikationen zur Musikgeschichte behandelt. Die sich dadurch ergebenden thematischen Überschneidungen sind durch die Methodik beider Fachbereichen verständlich und wesentlich für die interdisziplinäre Zusammenarbeit. Die unterschiedliche Vorgehensweise bei der Analyse von Prozessen, nämlich von der Gegenwart zur Vergangenheit oder von der Vergangenheit zur Gegenwart, sollte aber nicht aus den Augen verloren werden. Mit dieser Aufgabe sollten die Studierenden in Konzepte und Vorgehensweisen eines Studienbereichs eingeführt und geschult werden, bei dem Feldforschungen, nicht Archivarbeiten bzw. Studien in Bibliotheken grundlegend sind.


Die zukünftigen Forscher und Musiklehrer sollten in die Praxis einer empirischen Forschung eingeführt und für ihre Bedeutung und Zwecke sensibilisiert werden, methodische und systematische Verfahrensweisen bei Befragungen, Beobachtungen und Sammlung von Erfahrungen bei Teilnahmen erlernen sowie sich menschliche Qualitäten in Haltung und Umgang aneignen, die dafür notwendig sind. Nicht nur kommunikative Fähigkeiten sind bei Befragungen oder bei einer beobachtenden oder teilnehmenden Partizipation erforderlich, sondern eine Haltung, die nicht belehrend, aggressiv ausfragend, aufdringlich und despektierlich ist. Der Forscher musste sich zurücknehmen, bescheiden, diskret und respektvoll die Würde derer achten, von denen er Erkenntnisse zu gewinnen sucht. Bescheidenheit, Sich-Zurücknehmen, sich selbst in den Schatten stellen, Unaufdringlichkeit bei Wahrung eigener Würde erschienen als oberste Gebote.


Beim Training in Feldforschung sollten sich die Studierenden auch die Sensibilität dafür aneignen zu erkennen, ob ein Volkskundler oder Ethnologe tatsächlich seine Hausaufgaben gemacht hat, ob er diese Bezeichnung tatsächlich verdient. Wenn ein Forscher mit professoralem Gehabe, überheblich, aggressiv, unkontrolliert auftritt und sich in den Vordergrund bei der Feldforschung oder gegenüber anderen Forschern stellt oder sich hervorzuheben sucht, legt er nicht nur ein Zeugnis von mangelndem Benehmen und Erziehung ab, sondern er stellt überhaupt seine Befähigung zum Volkskundler oder Musikethnologen in Frage.


Die Fähigkeit, diese Eigenschaften wahrzunehmen und entsprechend Distanz zu wahren, sollte sich auch bei der Zusammenarbeit mit anderen Forschern auswirken. Bevor sich der Studierende zur Untersuchung Anderer durch Befragung und Beobachtung anschickte, sollte er bei sich selbst anfangen. Er setzte sich mit Schwierigkeiten der Selbstanalyse auseinander, die er bei sich und in seinem familiären Umfeld antrainierte, und gewann Verständnis und Toleranz bei der Begegnung mit Anderen. Die Auseinandersetzung mit dieser Aufgabe sollte zur Schärfung des Bewusstseins beitragen, dass der Forscher selbst kulturell geprägt und konditioniert ist, dass er trotz aller Bemühung nicht aus einer voraussetzungslosen Position andere Menschen oder Gruppen absolut wissenschaftlich neutral beobachtet und analysiert. Die Erledigung dieser Aufgabe sollte dabei helfen, eine überhebliche Attitüde des Beobachters gegenüber den Beobachteten zu verhindern. Sie förderte eine Haltung, die auf Dialoge in gegenseitigem Respekt ausgerichtet ist. Sie hatte somit eine ethische Dimension.


Text basierend auf Niederschriften der Vorlesungsreihe „Musik in der Begegnung der Kulturen“ von Prof. Dr. A. A. Bispo, Universität Köln 1997-2000, des Seminars „Cultural Studies“ an der Universität Bonn 2003 sowie der Lehrveranstaltung zu dem kulturwissenschaftlichen Ansatz in der Musikwissenschaft, Köln 2005.