AKADEMIE FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT 

INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES

ISMPS

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt

50 jahre hochschullehre und forschung
antonio alexandre bispo

afrikanistik
afroamerikanistik


rückblicke

lehrveranstaltungen in brasilien

1970-1974

fakultät für musik und kunsterziehung des musikinstituts são paulo

fachbereiche
ästhetik, wahrnehmung, strukturaktionstheorie, fundamente der expression und kommunikation des menschen

Gilbert Rouget
1916-2017

Afrika nahm eine herausragende Stellung bei den Lehrveranstaltungen im Fachbereich Ethnomusikologie seit ihrer Einführung auf Hochschulebene am Musikinstitut São Paulo 1972 ein. Musikehrer, Musikschulerzieher und Komponisten, die in der Fakultät aus- bzw. fortgebildet wurden, sollten sich mit der Musik-Afrikanistik in einer der Module, die sich auf Kontexte bezogen, eingehend beschäftigten. Dieses Studium diente der Praxis, der Interpretation und der Erziehung und sollte auch zu empirischen Studien als Gegenstand von Abschlussarbeiten anregen. Vor der Einführung des Fachbereichs wurde eine Studienreise des Musikinstituts nach Bahia und zu Bundesstaaten im Nordosten Brasiliens durchgeführt, um am Ort und Stelle Kontakte zu Institutionen und Forschern aufzunehmen, die sich mit afrikanischen Themen befassten. Eine Tagung zur Thematik wurde 1974 veranstaltet. 


Diese besondere Aufmerksamkeit erklärte sich durch den bedeutenden Anteil von Menschen afrikanischer Herkunft in Brasilien, was eine eingehende Auseinandersetzung mit der Geschichte der Sklaverei und deren sozialen und humanen Folgen erforderte. Das Studium der Musik-Afrikanistik sollte somit zur Bewusstseinbildung, zur Änderung von Mentalitäten und Einstellungen sowie zum Erkennen und zur Aufwertung der Rolle der Menschen afrikanischer Abstammung in Musik, Tänzen, Spielen, Traditionspflege und vor allem in der Religion beitragen.  


Die Ethnomusikologie an der Fakultät knüpfte damit an eine bereits lange Geschichte des volkskundlichen, anthropologischen bzw. ethnologischen Interesses an Festtraditionen an, die von Afrikanern und ihren Nachkommen in Brasilien getragen wurden, und allen voran an Kultformen, Musik, Instrumenten, Tänzen und Darstellungen des Candomblé, Xangô und anderer Religionspraktiken vorwiegend aus Bahia und dem Nordosten Brasiliens. Der Erforschung und der schöpferischen Auseinandersetzung mit diesen Kultpraktiken hatte sich bereits in den 1930er Jahren Martin Braunwieser (1901-1991) gewidmet, der bis 1971 die Leitung des Musikinstituts São Paulo innehatte. Als Verantwortlicher für die Musikaufnahmen der Forschungsexpedition, die 1938 vom Kultursekretariat São Paulo zum Nordosten Brasiliens gesendet wurde, führte er Studien dieser Kulturformen und ihrer Musik durch und komponierte u.a. ein Ogum betiteltes Werk. Renommierte brasilianische und ausländische Musikforscher führten Studien dieser Kultformen vor allem in Bahia und Pernambuco durch, die sie in Publikationen und Tonaufnahmen im In- und Ausland bekannt machten, sodass die Geschichte des musikethnologischen Interesses für Brasilien in besonderem Maße von ihnen geprägt wurde. 


Diese Ausrichtung der Aufmerksamkeit der Forschung übertraf bemerkenswerterweise bei weitem das Interesse an indigener Musik, die eigentlich an erster Stelle bei einer Brasilien betreffenden Forschung stehen sollte. Bei den Bestrebungen zur Erneuerung der Denk- und Sichtweisen in Kultur- und Musikstudien seit der Mitte der 1960er Jahren in São Paulo, die mit Relektüren der Literatur zur Musik einhergingen, wurden die Auffassungen, Einstellungen, Positionierungen und Kulturkonditionierungen der Forscher selbst fokussiert, da sie ihre Analysen und Deutungen bedingten. Sie offenbarten Verflechtungen mit politischen und weltanschaulichen Denkströmungen, waren ideologisch in unterschiedlicher Weise geprägt und in einigen Fällen – die auch besonders renommierte und gefeierte Forscher betrafen – von rassistischem Gedankengut durchzogen, was kritische Analysen erforderte.  


Die Ausrichtung der Aufmerksamkeit der Forschung auf Prozesse, die von der Bewegung Nova Difusão gefordert wurde, brachte nicht nur nationale Kontexte, in die sich die Forscher einfügten, in den Vordergrund der Betrachtung, sondern auch die internationalen Dimensionen der Interaktionen, die ihre Denk- und Sichtweisen bestimmten. Dabei wurden  noch mehr als die Beziehungen zur anglophonen Kultur- und Wissenssphäre Nordamerikas die engen Bindungen zu Denk- und Sichtweisen, zu Gewichtungen und Fokussierungen französischer Intellektueller, Künstler und Wissenschaftler erkennbar. Das Interesse und die Faszination für Kultur, Religion und Kult vor allem Westafrikas, die in Zusammenhang mit der Kolonialgeschichte Frankreichs zu betrachten sind und maßgeblich Kunst und Literatur Frankreichs des 20. Jahrhunderts und somit der sich an Paris orientierenden außereuropäischen Länder prägte, beeinflusste maßgeblich die Kultur- und Musikforschung Brasiliens. Die notwendige Überprüfung der Bibliographie, der Deutungen kultureller Erscheinungen, der Hypothesen über Ursprünge, die als gesicherte Tatsachen angenommen wurden, verlangte eine Erforschung der Forschung selbst, die die Kulturkonditionierung der Forscher beachtete und somit die Wissenskultur und die Eigenarten und Tendenzen der denkerischen und schöpferischen Auseinandersetzung mit Afrika in Frankreich.

Die Beziehung Brasiliens zu Frankreich waren in Literatur, Kunst, Musik und anderen Wissensbereichen seit dem 19. Jahrhundert besonders eng und die brasilianischen Wissenschaftler hatten sprachlich und kulturell eher Zugang zu französischen Publikationen. Französische Gelehrte prägten die Errichtung von Fakultäten in São Paulo, u.a. der Philosophischen Fakultät der Universität São Paulo, seit den 1930er Jahren. Eine besondere Beziehung bestand in volkskundlichen Kreisen zum Musée de l’Homme von Paris. Dieses Museum galt als Modellinstitution und die Arbeiten von Autoren, die mit ihm in Verbindung standen, wurden mit besonderer Aufmerksamkeit im Museum für Volkskunde São Paulos (Museu de Artes e Técnicas Populares) beachtet. Sie gaben auch Anlass zu Debatten, da Orientierungen festgestellt wurden, die sich von denen des Museums, das sich um eine Erneuerung von Perspektiven bemühte, unterschieden. Diese Differenzen betrafen u.a. Ansichten zur Erforschung von Trance-Phänomenen oder der Mystik bei Kultformen. 


Den Studierenden der Ethnomusikologie stand als Grundtext zur Besprechung der Beitrag zur „Musik Schwarzafrikas“ von Gilbert Rouget in der Enzyklopedie de la Pléiade zur Verfügung, der in portugiesischer Übersetzung vorlag. Rouget war besonders für sein Interesse an den Beziehungen zwischen Musik und Trance und als Experte für die Musikforschung des voodoo in Benin bekannt. Er war Direktor der Abteilung für Ethnomusikologie des Musée de l’Homme. Seine Leistungen beim Aufbau des Studios zu Tonaufnahmen am Museum seit 1947 gaben Anregungen für Projekte des Aufbaus eines entsprechenden Studios im Volkskundemuseum São Paulos. Die von ihm herausgegebenen Schallplatten des Musée de l’Homme standen im Tonarchiv São Paulos zur Verfügung und wurden bei den Lehrveranstaltungen verwendet. 


Der von ihm 1968 ins Leben gerufene Lehrgang ethnomusikologischer Studien am Musée d’Homme wurde zum Vorbild für die Errichtung einer Schule für Forscher am Volkskunde-Museum São Paulos und des Fachbereiches Ethnomusikologie an der Musikfakultät. Seine Zusammenarbeit mit Pierre Verger (1902-1996) in Salvador war bekannt und gab Anlass zu kritischen Debatten. Er veröffentlichte mit ihm die Fête por l’offrande des premières ignames à Shango (1965) und besonders die Aufnahmen von Deux chants liturgiques yoruba. Oriki de Shango des gleichen Jahres gab Anlass zu Fragen über Deutungen und Zuschreibungen.


In diesem Beitrag hob Rouget nach einleitenden Bemerkungen zur notwendigen Beachtung der nicht schriftlich überlieferten Musik sowie ihrer Vielfalt, die aus Gründen sozialer Organisation zu erklären ist, die Bedeutung historischer Faktoren und der Interaktionen von Völkern hervor, die es unmöglich machen, allgemeine, für den gesamtafrikanischen Kontinent geltende Prinzipien aufzustellen. Rouget sprach von einer im eigentlichen Sinne zu bezeichnenden schwarzen Musik – „música puramente negra“  –, wobei er Stilzonen unterschied, die in rezenten Tonaufnahmen zu erkennen waren: Senegal und Sudan im Norden,  äquatoriale Waldgebiete und Guinea sowie Australafrika. Indem er zwischen der „rein schwarzen Musik“ und der vom Islam beeinflussten Musikkultur unterschied, versuchte er, die Charakteristiken jener zu bestimmten. Eine besondere Aufmerksamkeit widmete er der Mehrstimmigkeit, die von Ethnie zu Ethnie variierte – die Diaphonie der Baule, die Homophonie im Unteren Dahomé und Benin, die Vokalpolyphonie in Äquatorialafrika, bei Pygmäen und Boximanen, Peul –, der mehrstimmigen Instrumentalpolyphonie in Afrika sowie der Verwendung der sanza und des balafon als Soloinstrumente.

Gegenstand besonderer Beachtung bei der Lehrveranstaltung wurden die Anmerkungen Rougets zur Musik der sudanesischen Region, insbesondere der griots als eine besondere Musikerkategorie. Seine Hinweise auf blinde Musiker waren von besonderem Interesse, da diese zu einem der Hauptforschungsgebiete von Martin Braunwieser in den 1930er Jahren im Nordosten Brasiliens gehörten. 


Bei der Behandlung der Musik Mauritaniens brachte Rouget einen weißen und einen schwarzen Weg bei der Musik der griots ins Gespräch, die er mit der Gegenüberstellung von religiöser Inbrunst einerseits und Traurigkeit und Nostalgie andererseits zu beschreiben suchte. Auch stellte er eine Koexistenz der Musik von Bauern- und Hirten-bzw. Kriegervölkern fest. Rouget sprach von einer Erneuerung der afrikanischen Musik, indem er hervorhob, dass Obsession nicht Wiederholung bedeutete. Dabei stützte er sich auf Besessenheitspraktiken bei den Songhay im Unteren Dahomé sowie auf die Feststellung, dass in ein und demselben rituellen Akt verschiedene Gattungen koexistieren und miteinander in Verbindung treten.


Von besonderer Bedeutung für Brasilien waren naturgemäß die Angaben von Rouget zu Musikinstrumenten Afrikas. Sie wurden mit Studien anderer Autoren verglichen und ergänzt, u.a. mit denen von André Schaeffner. Rouget hob die Vielfalt und die Beziehung der Musikinstrumente zur sozialen Organisation und ihren Gebrauch bei bestimmten Ritualen hervor. Auch unterstrich er die Vielfalt von Instrumenten, die bei nicht-religiösen Anlässen verwendet wurden und den Jazz beeinflussten. Außer der außerordentlichen Bedeutung der Trommel wies Rouget auf die Beziehungen zwischen Musik und Tanz als zwei Aspekte ein und derselben Aktivität in einer Dialektik von Bewegung und Klang hin. 


Die Auseinandersetzungen mit Rouget, die neben wichtigen Forschungsleistungen auch die Notwendigkeit eingehender Überprüfungen erkennen ließen, eröffneten eine Debatte, die sich über die folgenden Jahrzehnte auch auf internationaler Ebene fortsetzte. Sie betraf auch die Problematik der Interferenz von persönlichen Erfahrungen und Einstellungen mit der Forschung selbst und damit einhergehende Risiken proselytistischer Instrumentalisierungen.

Text basierend auf Niederschriften des von A.A.Bispo geleiteten Oberseminars 

„Aktuelle Probleme anthropologischer Musikwissenschaft“ an der Universität Bonn 2003 und des Hauptseminars zur kulturwissenschaftlich orientierten Musikforschung an der Universität Köln 2005.